Wahrnehmung und Verstehen

Notizen aus der Tiefe

Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Verstehen sind Philippe Jaccottets große Themen. "Wo beginnt das Innen?", heißt es bei ihm. In seinem aktuellen Buch wird diese Frage in drei Aufsätzen aus einer jeweils anderen Perspektive beantwortet.

Von den Dichtern können wir etwas über die Präzisierung des Blicks lernen. Sie zeigen uns kleine Sprünge in der Wirklichkeit und eröffnen damit eine Genauigkeit, die nur durch das Schauen erwirkt werden kann. Philippe Jaccottet, der 1925 im schweizerischen Waadtland zur Welt kam, ist ein solcher Wirklichkeitsverdichter. Sein umfangreiches, in französischer Sprache geschriebenes Werk umfasst Lyrik, Essays und Prosa, für die er mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde wie etwa mit dem Petrarca-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Jaccottet hat hinzu Ossip Mandelstams Lyrik aus dem Russischen übersetzt.

Kaum ein zeitgenössischer Dichter hat so oft die inneren Landkarten und die Idee eines erweiterten Blicks umkreist und ist dabei wie Philippe Jaccottet ein genauer Beobachter seiner eigenen Zeit geblieben. Im deutschsprachigen Gebiet ist vor allem sein lyrisches Werk bekannt. Auch seine Betrachtungen über die Bilder von Giorgio Morandi haben ihre Leser gefunden, in denen er gleichsam aus der Stille der Gemälde heraus die Wirklichkeit der Pinselstriche sichtbar gemacht hat. In dem Gedichte- und Prosaband "Der Unwissende" notierte er einmal, man müsse achtsamer denn je mit den Worten umgehen, jetzt, da Gott tot sei. Eine für Jaccottet typische Frage ist demnach eine nach der Innenwelt: "Wo beginnt das Innen?", heißt es bei ihm und in seinem neuen ins Deutsche übersetzten Buch "Notizen aus der Tiefe" wird diese Frage in drei Aufsätzen aus einer jeweils anderen Perspektive beantwortet.

Die "andere Kontur" der Wirklichkeit

Im ersten Teil berichtet Jaccottet von einer Reise nach Israel, auf der ihm Tod und Leben, Schönheit und Krieg, Zerstörung und Brutalität, Pilger und Musik begegnen. Vor dem Hintergrund der Gewalt erhalte die Realität eine "andere Kontur". "Man bildet sich ein", schreibt er, "doch zum großen Teil ist das Illusion, dem Wirklichen näher zu sein, stärker einbezogen zu sein in die Gegenwart, und sei's nur durch jenes winzige Risiko, das wir, so sagte man uns, eingehen, wenn wir hierher kommen." Der in Jaccottets Lyrik bereits vollzogene, formulierte Blick ist in diesen "Notizen aus der Tiefe" einsehbar. Transparent wird hier seine spezifische Art, die Welt zu sehen und ihr zu begegnen. Mit einer großen Umsicht und Genauigkeit öffnet er sich ihr.

Hin und wieder spürt der Leser auch seine schelmische Verbundenheit, beispielsweise wenn er einen Trupp tschechischer Pilger beobachtet, der den Erklärungen eines Fremdenführers lauscht und eine Frau ihm, wie es heißt, im Vorübergehen, "fieberhaft die Hand drückt, die Augen voller Tränen." Geradezu mit zärtlicher Wachheit bestaunt er die Menschen, die ihm begegnen und beschreibt sie mit jener für ihn typischen Anteilnahme, als ginge es darum, die ganze Welt durch eine einzelne Beobachtung präziser atmen zu lassen. Da heißt es beispielsweise:

Ein Mönch mit ausgemergeltem, zarten Gesicht, das umrahmt wird von einer schwarzen Kapuze, wie sie einst ein kleines Mädchen vom Lande im Winter hätte tragen können, bittet uns mit gütiger Stimme einzutreten, um uns einen Teil des "wahren Grabes" zu zeigen...

Der Tod und das Leben

Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Verstehen sind Jaccottets große Themen. Während er über das Gras und die Gräber nachdenkt, werden die Natur und der Tod zum Inbegriff einer unerhörten Harmonie. So ist auch in den anderen beiden Texten Jaccottets Blick auf den Tod und das Leben gerichtet. Es ist die Rede von der "Einschiffung zur Nacht" oder von "geretteten Worten". Tief bewegend ist die einzigartige Beschreibung eines sterbenden Freundes, vor allem dessen Blick, der, gelb und trüb geworden, nichts Äußerliches mehr sehen kann, sich aber einen Moment lang öffnet: "Wie ein Himmel", heißt es, "der sich auf Bitte eines Vogels noch einmal aufgetan hätte. Ein allzu kurzer Moment."

Im letzten Teil dieses Buches denkt Philippe Jaccottet über Russland und seine Dichter nach, zeigt uns, wie Lektüre und Leben ineinander verschmelzen und wie wichtig die fremden Namen sind, mit welcher Kraft sie unsere inneren Landkarten beschriften. Auch zeigt er uns, dass wir mit dem uns Fremden wachsen, ja wachsen müssen, weil das Unbekannte uns weiten kann. Es ist selten geworden, dass ein Dichter das in seinen Lesern auslöst, was er selbst beschreibt. Die Luft habe tausend offene Tore, hat er einmal geschrieben. In diesem Buch dürfen seine Leser durch diese Tore gehen und es sind ihm – der so viele Tore in uns geöffnet hat – unzählige Leser dafür zu wünschen. Doch sie werden entweder achtsam sein müssen oder bereit, sich ins Metier der Achtsamkeit von diesem stillen Meister einweisen zu lassen.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Philippe Jaccottet, "Notizen aus der Tiefe", aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl, Wolfgang Matz und Friedhelm Kemp, Hanser Verlag

Link
Hanser Verlag - Philippe Jaccottet