Der Beinahe-Nobelpreisträger

Wanderer, bist du auf Lesbos ...

Sappho lebte und dichtete auf Lesbos. Orpheus soll hier wilde Tiere zahm gesungen haben. Arion stammt von hier, er wurde von einem Delfin vor dem Ertrinken gerettet, weil er so schön sang. Odysseus war auch hier, aber wer ist Stratis Myrivilis?

Die drittgrößte griechische Insel Lesbos war immer schon, seit der Antike, eine Insel, die Künste und Künstler aller Art geschätzt hat. Die berühmteste weibliche Dichterin der Antike lebte und wirkte hier. Ihr Zeitgenosse war Alkaios, dessen Name sich zumindest in der "Alkäischen Strophe", einem vierzeiligen Strophenmaß erhalten hat. Beide gehörten zu den berühmtesten Dichtern ihrer Zeit, das war das 6. Jahrhundert vor Christos. Ein Jahrhundert früher wurde Terpander, der große Erneuerer der griechischen Musik, auf Lesbos geboren. Immerhin gewann er den ersten musischen Wettkampf am Fest der Karneen, und siegte dann auch viermal hintereinander bei den Pythischen Spielen.

Ganz so weit hat es Stratis Myrivilis nicht geschafft: 1960 war seine Chance am größten, den begehrtesten der Literaturpreise zu erhalten, aber die Jury entschied sich in diesem Jahr für den französischen Lyriker Saint-John Perse. Immerhin blieb Myrivilis doch in der feinen Gesellschaft der "Beinahe-Literaturnobelpreisträger", zu denen etwa Philip Roth zählt, oder auch Antonio Lobo Antunes, Haruki Murakami, Harry Mulisch, Milan Kundera, Margaret Atwood, Assia Djebar, Bob Dylan (ja, der auch!), Thomas Pynchon, Salman Rushdie, um nur einige zu nennen. Nur ganz nebenbei: Einer der beiden griechischen Literaturnobelpreisträger, Odysseas Elitis, der 1979 geehrt wurde, stammt ebenfalls aus Lesbos. Der andere war Giorgos Seferis, er erhielt den Preis 1963.

Erneuerer der griechischen Dichtung

Die Bewohner von Lesbos sind mit Recht stolz auf Stratis Myrivilis, gilt er doch als einer der Erneuerer der griechischen Dichtung, die in den 1920er Jahren zutiefst pessimistisch und von Hoffnungslosigkeit geprägt war. Der Schock der "kleinasiatischen Katastrophe", der Vernichtung der griechischen Bevölkerung von Smyrna und der ethnischen Trennung nach Volkszugehörigkeit - Griechen nach Griechenland, Türken nach Kleinasien - saß tief. Erst die "Generation der 30er Jahre" brachte neuen Wind in die Literaturszene, neue Themen, neuen Optimismus, neue Vorbilder. Ihr Enthusiasmus wurde vom Zweiten Weltkrieg gestoppt.

Voll vom Duft der Insel

Der 1890 in der kleinen Hafenstadt Skamia geborene und 1969 in Athen gestorbene Stratis Myrivilis studierte Jus und Philosophie, meldete sich 1912 freiwillig, um in den Balkankrieg zu ziehen. Seine Erlebnisse in den zehn Jahren, die er als Soldat verbrachte, verarbeitete er im Roman "Das Leben im Grabe", nachdem er bereits 1914 mit kleineren Erzählungen in die Öffentlichkeit getreten war.

Der erste Roman, der nicht nur innerhalb con Griechenland aufsehen erregte, erschien 1933: "Die Lehrerin mit den Goldaugen". Als sein reifstes Werk gilt der Roman "Die Madonna mit dem Fischleib", 1949 veröffentlicht. Die genannten Romane sind vor Jahren in deutscher Sprache erschienen und teilweise auch noch erhältlich - vielleicht nicht unbedingt die ganz leichte Urlaubslektüre, aber doch voll vom Duft der Insel Lesbos.

Service

Stratis Myrivilis, "Die Madonna mit dem Fischleib", Manesse Verlag