Eine demokratische Türkei?
Die bitteren Wasser Istanbuls
Die Dichterin Emine Sevgi Özdamar lebt zwischen Berlin und Istanbul. Sie jongliert mit Worten, um Innerstes bloßzulegen. Das Mordopfer war Hrant Dink, ein armenischer Journalist, der sich um ein neues friedliches Miteinander in der Türkei bemühte.
8. April 2017, 21:58
Emine Sevgi Özdamar und Hrant Dink haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Außer, dass beiden ihre Heimat, die Türkei, am Herzen liegt. Wohl verstanden: eine demokratische Türkei, in der Menschen verschiedenster Herkunft und verschiedenster Überzeugung friedlich nebeneinander leben: Armenier und Griechen und Türken, Juden Christen, Moslems. Hrnat Dink kämpfte in der Türkei für seine Überzeugung und eine demokratische Türkei. Und er starb schließlich dafür. Und Emine Sevgi Özdamar?
Die Pendelbewegung des Lebens
Sie kam mit 19 Jahren nach Berlin, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, arbeitete in einer Fabrik und wohnte in ständiger Sicht des Hebbeltheaters. Was sie daran erinnerte, dass sie eigentlich Schauspielerin hatte werden wollen. Und so kehrte sie nach Istanbul zurück - das Leben in der pendelnden Bewegung hatte begonnen - nahm Unterricht, erhielt ihre erste professionelle Rolle und kam neun Jahre später wieder nach Berlin. Ihr weiterer Weg als Schauspielerin wäre nicht weiter interessant, hätte sie nicht begonnen, zu schreiben. Auf eine neue und persönliche Art, den Ungereimtheiten und Paradoxen ihrer neuen, der deutschen Sprache nachspürend, ähnliche Seltsamkeiten in ihrer eigenen Sprache entdeckend.
Der unmittelbare Anstoß zu schreiben war ein Brief, den sie in einer leeren Wohnung fand, vergessen von einem Landsmann, der in einem ganz eigenen Stil nach Hause schrieb, Redewendungen wörtlich von der einen in die andere Sprache übersetzte, neue Worte baute - und das Ergebnis als Unbrauchbar vergaß. Dieser Brief drängte sie, selber mit Sprache zu arbeiten.
"Ich wollte die Schönheit der Sprache wieder finden durch die Schönheit einer anderen Sprache, erzählte Sie 2004 in einem Interview. Und so begann sie zu schreiben. Erst das satirische Theaterstück "Karagöz in Alemania", die Geschichte eines türkischen Bauern, der mitsamt seinem Esel nach Deutschland reist, seine Frau aus dem Dorf nachkommen lässt und dann doch wieder nach Hause zurückkehrt. Dann folgten Erzählungen, Romane, Auszeichnungen, Nachahmer. Und immer wieder die Pendelbewegung Türkei - Deutschland.
Heikle Themen diskutiert
Hrant Dinks pendelndes Leben war anderes ausgerichtet. Er versuchte immer wieder, auszugleichen, die Gräben zwischen den Türken und den anderen in Kleinasien ansässigen Völkern zuzuschütten. Er kam immer wieder mit den türkischen, national eingestellten Behörden in Konflikt, schon während seiner Studentenzeit. In den 1980er Jahren beschlagnahmte der Staat das armenisch-christliche Ferienheim, das er mit seiner Frau leitete. Der Vorwurf: Die armenische Kirche hätte sich dieses Grundstück wie viele andere, auf denen Kirchen, Krankenhäuser und Schulen standen, widerrechtlich angeeignet.
So sah sich Hrant Dink nach einem neuen Beruf um. Er eröffnete eine Buchhandlung und wurde Journalist. Mitte der 1990er gründete er mit Freunden "Agos", ein politisches Journal, das heikle Themen von allen Seiten und in zwei Sprachen, Türkisch und Armenisch, diskutierte. "Agos" lieferte den Behörden unzählige Gründe, den Herausgeber Hrant Dink vor Gericht zu stellen, wegen Beleidigung des Türkentums angeklagt und schließlich von einem 16-jährigen Fanatiker am 19. Januar 2007 vor dem Verlagshaus erschossen zu werden. Die Hintermänner wurden nie gefunden.
Die Verbindung
An diesem Punkt trafen Dichterin und Mordopfer aufeinander. In ihrer Meditation "Bittere Wasser. Istanbul und die Schwarzmeerküste", die sie für die Anthologie "Odessa Transfer. Nachrichten vom Schwarzen Meer" verfasste, wird der Tod des Hrant Dink zum Refrain eines Klageliedes, deren Strophen den verjagten Prontos-Griechen und ihrer verlorenen Kultur gewidmet sind, aber auch den fehlgeleiteten Mördern, und einem namenlosen Obdachlosen, der mitten in Berlin auf einer belebten Kreuzung erfroren ist. Und das demokratische Gesicht der Türkei sichtbar werden lässt.
Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 10. Dezember 2009, 11:40 Uhr
Buch-Tipp
Katharina Raabe, Monika Sznajderman (Hg.), "Odessa Transfer. Nachrichten vom Schwarzen Meer", Suhrkamp