Die Suche nach dem Autor
2666
Roberto Bolanos letzter Roman besteht aus fünf Teilen, die ineinander verzahnt sind, denn "2666" ist ein gewaltiges Epos, das das gesamte 20. Jahrhundert umspannt. Die Kritik lobte Bolano für diesen Roman in den höchsten Tönen.
8. April 2017, 21:58
Bevor Roberto Bolano starb, hatte er alles ganz genau geplant. Sein letzter Roman "2666" sollte in fünf Stücke zerlegt werden. Jedes Jahre sollte ein Buch erscheinen, sogar den Preis jedes Bandes hatte Bolano schon festgesetzt. Angesichts seines nahen Todes wäre das die für seine Nachkommen finanziell beste Lösung, war er überzeugt.
Aber wie das so ist mit den Nachlassverwaltern: Sie kümmern sich nicht um die Vorgabe der Schriftsteller. Und fast immer ist das auch gut so. Denn zwar sind die fünf Kapitel dieses Romans jeweils eine eigene Geschichte, aber sie bauen aufeinander auf und bedingen sich gegenseitig. Das Buch zu zerlegen, wäre also gegen den Geist des Romans gewesen.
Wer ist Archimboldi?
Das erste Buch, das "Der Teil der Kritiker" heißt, handelt von vier Literaturwissenschaftlern, die sich ganz der Erforschung eines der breiten Öffentlichkeit unbekannten Autors gewidmet haben. Dieser Benno von Archimboldi ist eine mythenumrankte Figur. Ab und an sendet er ein Manuskript an seine Verlegerin. Wo Archimboldi wohnt, wie er aussieht, was er so den lieben langen Tag tut, das weiß keiner.
Diese vier Kritiker - einer aus Spanien, der andere aus Frankreich, der dritte aus Italien und die vierte aus England - reisen von Kongress zu Kongress. Sie bilden eine Phalanx gegen all die anderen, die es wagen, das heterogene Werk von Archimboldi vielleicht anders deuten zu wollen.
Boltano gibt in diesem Abschnitt ein fast schon karikaturhaft überzeichnetes Bild von europäischen Intellektuellen. Ihr ganzes Leben dreht sich bloß um Texte. Da Archimboldi nicht aufzufinden ist, ist er die perfekte Projektionsfläche der eigenen Hoffnungen. Die vier Wissenschaftler leben ein in sich geschlossenes Leben, in das nur Einlass findet, wer Archimboldi verehrt. Kein Wunder also, dass der Spanier und der Franzose ein Verhältnis mit der Engländerin beginnen. In diesem Teil strapaziert Bolano dann auch noch nationale Klischees und wenn der amouröse Reigen nach 200 Seiten endlich zu Ende ist, ist der Leser nicht wirklich traurig, dass nun das zweite Buch beginnt.
Versumpft in Santa Teresa
Die Schnitzeljagd nach dem verschollenen Autor treibt dessen Fans in den Norden von Mexiko. Dort soll er gesehen worden sein; also nichts wie hin. Hier beginnt nun das zweite Buch "Der Teil von Amalfitano". Der Philosophieprofessor gleichen Namens hat seine Frau an den Wahnsinn verloren und fürchtet, nun auch selbst den Verstand zu verlieren. Er lebt in Santa Teresa, jener Stadt, in der Archimboldi sein soll und die seit einiger Zeit schon von bestialischen Morden aufgeschreckt ist.
Der dritte Teil, "Der Teil von Fate", handelt vom schwarzen amerikanischen Journalisten Oscar Fate. Nachdem der Sportreporter des Magazins, für das Fate schreibt, gestorben ist, wird Oscar von seinem Politressort abgezogen, um über einen Boxkampf in Santa Teresa zu berichten. Dort verliert sich Fate schon bald in den dunklen Ecken der Stadt. Er wird durch Bars geschleift, kommt mit Drogen in Kontakt und besucht verschiedenste Partys. Auf einer trifft er Rosa. Das ist die Tochter von Amalfitano aus dem zweiten Buch und sie steht vor dem Abgrund.
Der Teil von Fate dient als Übergang im Buch. Vorher spielte alles noch auf der verschrobenen Ebene der Intellektuellen, doch jetzt driftet der Text in die brutale Welt der Frauenmorde ab.
Ermordete Frauen
Im vierten Teil, "Der Teil von den Verbrechen", berichtet Bolano über die grausame Mordserie von Ciudad Juárez. Mehr als 400 Frauen - einfache Wanderarbeiterinnen und Prostituierte - wurden da bestialisch vergewaltigt und ermordet. Die Morde blieben ungeklärt, die Polizei strengte sich nicht besonders an und Journalisten, die die Fälle recherchierten, wurden bald darauf ebenfalls tot gefunden.
Bolano hat nun die Vorkommnisse in das erfundene Santa Teresia verlegt und das Schicksal von 108 fiktiven Verbrechensopfer aufgeschrieben. Mit dem distanzierten, neutralen Ton des Reporters beschreibt Bolano, wo die Frauen gefunden wurden und was man ihnen angetan hat. Es sind grausige Porträts und dieser Teil, der auch eine bedrückende Schilderung der Verstrickungen von mexikanischer Justiz, Polizei und Unterwelt ist, ist mit Sicherheit der beste Teil von "2666".
Und weil es immer einen Verdächtigen geben muss, verhaftet die mexikanische Polizei den Deutschen Klaus Haas. Er kommt in Untersuchungshaft, die Gerichtsverhandlung schleppt sich über Jahre dahin, und obwohl die Morde weitergehen, kommt Haas nicht auf freien Fuß.
Der Kreis schließt sich
Im letzten Teil nun tritt er endlich auf, der, von dem so lange die Rede war. Im "Teil von Archimboldi" wird das Leben des Autors, der als Hans Reiter zur Welt kam, nacherzählt. Soldat im Zweiten Weltkrieg war er, an der Ostfront hat er gekämpft und im Kriegsgefangenenlager war er auch interniert. Und - so schließt sich der Kreis zumindest ein wenig: Archimbolids Schwester Lotte ist die Mutter jenes Klaus Haas, der in Santa Teresa als mutmaßlicher Serienmörder einsitzt.
"2666" ist ein gewaltiges Epos, das das gesamte 20. Jahrhundert umspannt. Die Kritik lobt Bolano für diesen Roman ausschließlich in den höchsten Tönen. Ausschließlich mit den größten Autoren wird er verglichen. Ein zweiter Pynchon sei er und das Buch zumindest ein neuer "Moby Dick", wenn nicht gar eine moderne Version der "Suche nach der verlorenen Zeit".
Das ist alles gut gemeint, stimmt aber nur bedingt, denn Bolanos Roman wirkt über weite Strecken doch wie der Versuch, die verschiedensten Schreibstile zu imitieren. Hier Sex and Crime, dort eine ironische Abhandlung über die Intellektuellen und zum Schluss eine Prise Landserromantik. Und so steht man als Leser vor diesem Monster-Text und kommt nicht umhin, Bolanos Können zu bewundern. Und dann überrascht zu sein, dass einen dieses ganze Können auf seltsame Art kalt lässt und es nicht gelingen mag, so ganz in diesem Text zu versinken.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 11. Dezember 2009, 16:55 Uhr
Ex libris, Sonntag, 13. Dezember 2009, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Roberto Bolano, "2666", aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen, Carl Hanser Verlag
Link
Hanser Verlag - Roberto Bolano