Wörtliche Übersetzung

Kommentar zu Eugen Onegin

15 Jahre hat Vladimir Nabokovs Arbeit an der wörtlichen Übersetzung von Alexander Puschkins "Jewgenij Onegin" samt Kommentar gedauert. Dieser umfasst schließlich 1.300 Seiten. Das umfangreiche Werk ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Vladimir Nabokov war ein Mann des Understatements. Mehrfach erinnerte er an seine Emigration aus dem bürgerkriegsgeschüttelte Russland im Jahre 1919. Kaum hatte das Schiff in Sewastopol abgelegt, begann er mit seinem Vater ein Partie Schach - dabei schaute sich kein einziges Mal nach dem Land um, das er zeitlebens nicht mehr betreten sollte.

Es folgten freies Schriftstellertum im Deutschland der 20er/30er Jahre, acht Romane auf Russisch, die Emigration vor den Nazis: Bis zum skandalösen Welterfolg von "Lolita" 1955 unterrichtet Nabokov an amerikanischen Universitäten russische Literatur: Es gehört zum Eigenwilligsten der Philologie, wie er etwa - in seine eigenen Worten - Dostojewskij "den Arme verdrehte".

Beginn einer großen Arbeit

Lakonisch profan ist die Ankündigung aus dem Januar 1944 an den befreundeten amerikanischen Literaturkritiker Edmund Wilson: "Lieber Bunny, ich schicke Dir die Socken, die Du mir geliehen hast, und eine Probe meiner Übersetzung von You-gin One-gin. In eine habe ich ein Loch gemacht, und (meine Frau) Vera wusste nicht, ob ihre doch recht schlichten Stopfmethoden Dich zufrieden stellen würden."

Was sich dahinter verbirgt, ist der Beginn der 15 Jahre dauernden Arbeit an der wörtlichen Übersetzung von Alexander Puschkins "Jewgenij Onegin" samt Kommentar; dieser wir schließlich 1.300 Seiten umfassen. Nabokov meinte selbst, es handle sich um die Arbeit, die von ihm - neben "Lolita" - einmal bleiben würde. Tatsächlich ist es ein Buch jenseits von Gut und Böse, ein Buch für alle oder vielleicht auch für niemand.

Ehrbare Prinzipien

Warum "Eugen Onegin" als "Enzyklopädie der russischen Welt" bezeichnet wurde, wird schon in den Anmerkungen zum ersten Vers deutlich: "Mein Onkel hat höchst ehrbare Prinzipien." Der Onkel, von dem da die Rede ist, ist der erkrankte Onkel des Petersburger Gecken Eugen Onegin, dem jener sein Landgut vererben wird; Eugen wird sich dorthin zurückziehen, von seinem Bekannten Lensky in die Familie der Larins eingeführt; eine unglückliche Liebesgeschichte mit Tatjana und Olga, Duell und Tod. Kurz - es ist ein Stoff für eine Oper, die Tschaikowski bekanntlich auch komponierte.

Anders Nabokov: Den Fragment gebliebenen Vers-Roman über die für Russland entscheidenden Jahre zwischen dem Sieg über Napoleon und die Niederschlagung der Dekabristen 1825 baut er zum Hypertext aus. Das geht zum Beispiel so: Bei Onegins vom Onkel geforderter geheuchelter Anteilnahme handle sich um eine Anspielung auf einen Vers des Fabeldichters Krylow: "Der Esel hatte höchst ehrbare Prinzipien." Nabokov führt dazu aus:

Puschkin hatte Anfang 1819 in Petersburg den beleibten Barden diese Verse mit beträchtlichem Humor und Gusto rezitieren hören, und zwar im Hause des wohlbekannten Kunstmäzenen Alexej Olenin (1763-1843). Auf diesem denkwürdigen Fest, bei dem auch Gesellschaftsspiele nicht fehlten, nahm der zwanzigjährige Puschkin kaum Notiz von Olenins Tochter Annette, der er 1828 so leidenschaftlich, und so glücklos, den Hof machen sollte, (...) nahm dafür aber Notiz von Frau Olenins Nichte, Anna Kern, geb. Polotoratzkij, der er bei einem zweiten Treffen (auf dem Lande bei Pskow, Juli 1825), das berühmte kurze Gedicht mit der Anfangszeile "Ich denke zurück an den wunderbaren Augenblick" widmen sollte, das er ihr in einem unaufgeschnittenen Exemplar des Sonderdruckes des Ersten Kapitels von "Eugen Onegin" darbot.

Kette von Assoziationen

Das Leben von Autor Puschkin und Protagonist Onegin wird synchronisiert, was eine üppige Kette von Assoziationen auslöst - zuerst zu Lord Byrons "Don Juan" und zu Lawrence Sternes "Tristram Shandy", weiter ad infinitum. Neben Erläuterungen zu fast jedem Wort und jedem Komma, die alles, was literaturwissenschaftliche Faktenhuberei je herauszufinden vermag, spielend übertrifft, eröffnet Nabokov überdies ein Spiegelspiel vergnüglicher Reflexion, die nie zur Interpretation gerinnt.

Wir befinden uns - wohlgemerkt - noch immer beim ersten Vers. Dann verlässt Aristokrat Onegin sein Haus, die Rede geht auf seine Erziehung - er wäre fast in einem Jesuitenkolleg gelandet: Sogleich beginnt ein Exkurs zur Erziehung im Zeitalter der Aufklärung, zur Rolle der Jesuitenschule in Russland, deren Vertreibung aus Petersburg 1815. Dabei wird auch Nabokovs eigene Familiengeschichte ins Spiel gebracht: Ein hitzköpfiger Großvater hatte einst einen gewissen Abbe Nicole aus Eifersucht eigenhändig aufgehängt. Wenn es um Onegins Spaziergang im hauptstädtischen Letnij Sad, dem Sommergarten, geht, landet Nabokov gar bei eigenen Erinnerungen:

Letnij Sad: Le Jardin d'Eté, ein öffentlicher Park am Newa-Ufer mit Alleen aus krähengeplagten Schattenbäumen (importierte Ulmen und Eichen) und nasenlosen Statuen griechischer Gottheiten (made in Italy); hier wurde auch ich, einhundert Jahre später, von einem Hauslehrer spazieren geführt.

Detailgetreue Genauigkeit

Es ist ein keineswegs bloß subjektives, sondern ein gleichermaßen exzessives wie geordnetes Spiel mit unendlich viel Perspektiven, das Nabokov vorführt: Enzyklopädie und System zugleich. Onegin ist ein Dandy, doch was ist ein Dany eigentlich im Unterschied zu einem Beau, oder zu einem Pedanten (der nur über Bücherwissen verfügt)? Ganz sicher ist er - darauf insistiert Nabokov immer wieder - kein "politischer Rebell", als welchen ihn die sowjetische Literaturwissenschaft darstellen wollte.

Man fühlt sich hier an den inflationären "Widerstand" des heutigen Feuilletons erinnert - wogegen Nabokov ankämpft: Für ihn ist Widerstand mehr als nur eine Pose, vielmehr ist es ihm um die Details, um Genauigkeit zu tun, die Puschkin praktizierte. Wer verwendet wann den Ausdruck "brjuki" für Hose - wer sagt "stany"? (Das taten nur die "unteren Schichten" heißt es dazu markig!) Wer trägt einen Bolivar, warum wird genau am Newskij Boulevard flaniert, warum Adam Smith gelesen? Warum schlafen Lakaien auf Mänteln, was hat es mit den Biberfellkragen auf sich?

Sogleich befinden wir uns bei Gogols Erzählung "Mantel" und dem Rangsystem der russischen Beamten. Wie ist Macht, was ist Form? Dem nicht genug, bohrt Nabokov weiter: "Froststaub" lagert sich da auf dem Pelz des Helden ab: Wann beginnt es in Petersburg üblicherweise zu schneien?, lautet die dazugehörige Frage. Und dann betritt Onegin das Restaurant "Talon", es gibt "Kometenwein", Rost Beef, Trüffel, und die "unvergängliche Straßburger Pastete"; die wird folgendermaßen kulinarisiert:

Die Gänseleberpastete /pirog/ sollte nicht, wie es oft geschieht, mit der foie-gras-Terrine (Russ. Paschtet) verwechselt werden. Die Pastete war un vrai gibraltar (...) die attackiert und "mit einem Tranchiermesser aufgeschnitten werden musste (wie Brumell in einem Brief meinte.)

Puschkin dem Westen zugänglich machen

Als Tatjana im 5. Kapitel nächtens einen Brief verfasst, erfährt man von Puschkins Kritzel-Zeichnung am Rande des Manuskripts (Tatjana im zarten Hemd), es geht um den unübersetzbaren Sinn des russischen Ausrufes "Oh"; erklärt wird, wie man vor der Erfindung des Kuverts Briefe versiegelte, und - wie sich junge Frauen in der Provinz abends wuschen. Es geht um Landwirtschaft; Krieg, Staatskunst; um die Epoche von Russlands Expansion an Schwarzes und Kaspisches Meer, und um ein mögliches Ende von Onegin - entweder bei der gewaltsamen Niederschlagung des Dekabristenaufstandes oder im Kaukasischen Krieg jener Zeit. Schließlich rekonstruiert er ausführlich alle Reisen Puschkins, der - anders als sein Kommentator - das Land kein einziges Mal verlassen hatte.

Nach Fertigstellung seines Onegin-Kommentars schrieb Nabokov an den genanten Edmund Wilson: "Russland wird mir all seine Schulden nie zurückzahlen können." Wie sehr er mit seinem überbordenden Monsterwerk das Ziel, Puschkin im Westen zugänglich zu machen, tatsächlich erreichte, muss der Leser, muss die Leserin entscheiden: Hat man aber einmal zu lesen begonnen - links die interlineare Übersetzung, rechts der Kommentar - bleibt man der Öffentlichkeit eine schöne Weile entzogen. Und zwar ohne sich dabei zu langweilen.

Dabei drängt sich folgender Gedanke auf: Als Vladimir Nabokov 1920 in die Emigration abfuhr, musste er sich nicht umdrehen, weil er Russland gar nicht verließ. Russland war immer dort, wo Nabokov gerade schrieb. Der englische Kommentar zu "Eugen Onegin" wurde zum Mittel, diese Fiktion aufrechtzuerhalten. Und ein weiterer Gedanke: "Vladimir Nabokov - Kommentar zu Eugen Onegin" ist zweifellos das extravaganteste Buch, das der deutsche Buchmarkt in diesem Jahr zu bieten hat.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 13. Dezember 2009, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Alexander Puschkin, Vladimir Nabokov, "Eugen Onegin. Ein Versroman. Vorwort, Einleitung und ein Kommentar von Vladimir Nabokov", aus dem Russischen von Sabine Baumann, aus dem Englischen übersetzt von Sabine Kaufmann, Stroemfeld Verlag

Link
Stroemfeld - Eugen Onegin