Wir behandeln die Falschen

Irre!

Manfred Lütz will mit seinem Buch keinen Ratgeber abliefern, denn Ratgeber hätten schon eine wahre Schneise der Verwüstung durch unsere Gesellschaft geschlagen, meint er. Lütz zeigt auf, was die Psychotherapie tatsächlich kann und was nicht.

Wer normal und gesund ist oder psychisch krank und deshalb einer Behandlung bedarf, das lässt sich so einfach fast nie feststellen. Normalität und die Abweichung davon sind kulturell festgelegte Werte, die sich im Laufe der Zeit immer wieder ändern. Und nur, weil jemand anders ist, heißt das noch lange nicht, dass er behandelt werden muss.

Diese Abweichler sind oft das Salz in der Suppe. Sie sprengen die Konventionen der Gesellschaft und bringen diese so weiter. Gefährlich sind sie nur äußerst selten; man sollte sich vor den durch und durch Normalen, den Normopathen viel eher fürchten, als vor jenen, die als "irre" bezeichnet werden, meint der Psychiater Manfred Lütz:

Normopathen nennt man mit leichter Ironie Menschen, die so wahnsinnig normal sind, dass es weh tut. Wenigstens der Umgebung. Doch schon solche Ironie kann gefährlich sein. Denn Humor, die Infragestellung seiner selbst, ist verbissenen Normopathen völlig fremd. Es fehlt ihnen die Leichtigkeit, vielleicht auch manchmal der Leichtsinn.

Gute Normale und böse Gestörte

Manfred Lütz will in seinem Buch eine kleine Geschichte der Psychoanalyse und der Psychotherapie geben. Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Was können die jeweiligen Methoden, was können sie nicht. Warum ist es sinnvoll, in dem einem Fall Medikamente zu verschreiben und warum versagen die Psychopharmaka in anderen Fällen.

Wogegen Lütz sich ausspricht, ist der Einsatz des psychotherapeutischen Werkzeugs als Waffe. Die Methode dürfe nicht verwendet werden, um Menschen auf einer Skala zu normieren. Hier die guten Normalen, dort die bösen Gestörten. Denn wer ist denn wirklich irre? Lütz nennt ein Beispiel: Dieter Bohlen.

Keiner meiner Patienten ist so abgedreht wie Dieter Bohlen und keine meiner Patientinnen so naiv wie seine Gespielinnen. Dennoch: So verrückt das Ganze auch ist, weder Dieter Bohlen selbst, noch seine Alten/Neuen hätten die Chance, in der Psychiatrie behandelt zu werden. Dieter Bohlen erfreut sich nach Lage der Dinge praller körperlicher und seelischer Gesundheit. So sehr Sie sich dagegen sträuben, liebe Leser: Dieter Bohlen ist normal.

Der Psychologe als Alleswisser

Manfred Lütz' Buch hebt sich wohltuend von den Texten anderer populärwissenschaftlicher Psychologen ab, die zum Beispiel versuchen, die Probleme und Psychose von Prominenten anhand von Zeitungsartikeln zu analysieren. Für Lütz vollbringen Psychiater keine Wunder und sie sind auch nicht Interpreten gesellschaftlicher Veränderungen. Was sie können und worauf sie sich beschränken sollten: Leuten, die nicht mehr weiter wissen, zu helfen. Nicht mehr und nicht weniger.

Deswegen will Lütz auch keinen Ratgeber abliefern, denn Ratgeber hätten ohnedies schon eine wahre Schneise der Verwüstung durch unsere Gesellschaft geschlagen. Für all das, was sich früher von selbst verstand, gibt es heute ein Handbuch. Dadurch wurden völlig normale Vorgänge zu geheimnisvollen Problemen verklärt, für deren Lösung es eines Fachmannes oder einer Fachfrau bedarf. Kinder zeugen, Kinder kriegen, Kinder aufziehen. Nichts kann der postmoderne Mensch mehr selbst. Für alles braucht er ein kluges Buch, das ihm erklärt, wie das geht. Und da ja alles, wenn es nicht funktioniert, auf einen psychischen Defekt zurückgeführt werden kann, ist der Psychologe zum Allesdeuter und Alleswisser geworden. Aber das ist er nicht und das sollte er auch nicht sein wollen, ist Manfred Lütz überzeugt.

Auch die Irrenärzte irren sehr oft. Der Psychiater wendet sich auch gegen die Unsitte, dass jeder Mensch von vornherein als Mängelwesen wahrgenommen wird. Zu dieser Sicht habe auch eine vollkommen überzogene Formulierung der Weltgesundheitsorganisation WHO beigetragen. Dort heißt es, Gesundheit bedeute "völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden". Da solch ein paradiesischer Zustand aber niemals erreicht werden kann, ist nach dieser Definition jeder krank. Und das ist natürlich Schwachsinn. Denn im Zweifel ist jeder gesund, erklärt Manfred Lütz.

Anwalt der Patienten

In lockerem Ton gelingt es dem Psychiater zu zeigen, was sich eine Gesellschaft von ihren Seelendoktoren erwarten kann und was nicht. Positiv herauszuheben ist Lütz' Ansatz, dass er das Wissen seiner Zunft nicht als Normierungsinstrument verstanden wissen will. Denn das war die Psychiatrie viel zu lang: ein Machtinstrument, mit dessen Hilfe sich die Gesellschaft all derer entledigt hatte, die ihr lästig waren.

Aufgabe der Psychiatrie ist es, wirklich kranken Menschen zu helfen. Sie muss Anwalt der Patienten sein und darf sich nicht zum Agenten einer Gesellschaft machen, die sich von den Irritationen durch ihre psychisch Kranken entlasten möchte. Daher ist es ein Test auf die Freiheitlichkeit der Psychiatrie, ob sie sich konsequent dem gesellschaftlichen Druck verweigert, das Außergewöhnliche und Störende für krank zu erklären.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Manfred Lütz: Irre! Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde", Gütersloher Verlagshaus

Link
Gütersloher Verlagshaus - Irre!