Angst und Agonie

Das stille Haus

"Das stille Haus" ist Orhan Pamuks zweiter Roman aus dem Jahr 1983, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. Darin zeigt er wie unter einem Brennglas eine von Agonie und Angst gezeichnete Türkei. Alle Personen haben eine erschütterte türkische Identität.

Der neue Pamuk ist - ein alter. "Das stille Haus" erschien 1983 in der Türkei. Der deutsche Verlag legt das bereits in andere Sprachen übersetzte frühe Werk jetzt wahrscheinlich vor, weil so bald kein neuer Roman des Literaturnobelpreisträgers von 2006 zu erwarten ist. Pamuk baut nämlich gerade in Istanbul das "Museum der Unschuld", von dessen möglicher Vorgeschichte sein gleichnamiger, im letzten Jahr auf Deutsch erschienener Roman erzählt. In diesem Privatmuseum will Pamuk von ihm gesammelte Gegenstände der Alltagskultur ausstellen. Zum Schreiben dürfte er kaum kommen. Weshalb ihn "Das stille Haus" wohl im Gespräch halten soll.

Politisch zurückgenommen

Als dieses Buch 1983 erschien, war Orhan Pamuk 31 Jahre alt. Er lebte mit seiner Mutter in einer Wohnung in Istanbul und hoffte, ein großer Schriftsteller zu werden. Immerhin war sein erstes Buch "Cevdet Bey und seine Söhne" recht erfolgreich gewesen, den zweiten Roman hatte Pamuk jedoch abgebrochen. Das politische Buch erschien ihm undruckbar in einer Situation, in der linke wie rechte Terrorakte das zu einem Drittel unter Kriegsrecht stehende Land erschütterten.

Im dritten Roman "Das stille Haus", der dann als zweiter veröffentlicht wurde, nahm sich Pamuk also in politischer Hinsicht bewusst zurück. Dem Roman ist das bekommen: Wie unter einem Brennglas zeigt er eine von Agonie und Angst gezeichnete Türkei.

Das Haus der Großmutter

Faruk, Nilgün und Metin besuchen im Sommer 1980, am Vorabend des Militärputsches, "Das stille Haus" ihrer Großmutter am Meer. Mit ihr, die bettlägrig ihren Erinnerungen nachhängt, verbindet die jungen Istanbuler, deren Eltern tot sind, wenig.

Der von seiner Frau verlassene Geschichtsdozent Faruk trinkt und will mit dem endlosen Erzählen von Geschichten, die er im Archiv des Vorortes recherchiert, Moral und Kausalität entkommen. Seine Schwester Nilgün befürwortet als Linke eher die Tat, wenn sie nicht gerade badet und liest. Metin, der Jüngste, will als Einziger das großmütterliche Holzhaus verkaufen, um seine Träume in den USA zu verwirklichen. Er versucht voller Minderwertigkeitsgefühle, bei den rücksichtslosen Vergnügungen der lokalen Jeunesse dorée mitzuhalten.

Ungeliebte Stiefsöhne

So einsam wie die Enkel ist auch die Großmutter. Sie denkt fortwährend an ihren toten Mann, der als Arzt, Aufklärer und Ehemann scheiterte, weil er Patienten, Nachbarn und seine Ehefrau für ihren Glauben verachtete. Als er resigniert mit dem Dienstmädchen zwei Söhne zeugte, prügelte die Großmutter die Frau aus dem Haus und die Söhne zu Invaliden.

Einer von ihnen, der kleingewachsene Recep, führt nun aufopferungsvoll ihren Haushalt, und wird als "hinterhältiger Zwerg" beschimpft. Der andere, Receps Bruder, lebt in Armut. Dennoch spielte sein Sohn Hasan, der als jugendlicher Nationalist die örtlichen Geschäftsleute erpresst, einst mit Faruk, Nilgün und Metin. Ihnen versucht sich Hasan wieder zu nähern. Er begehrt Nilgün und erschlägt sie am Ende, ohne es zu wollen.

Zahlreiche Umwege

Orhan Pamuk lässt all diese Personen abwechselnd erzählen. Das weist jedem Ich-Erzähler eine erhebliche epische Last zu und führt zu Umständlichkeiten wie "sagte ich und erzählte dann". Doch der Wechsel der miteinander verwandten Ich-Erzähler lässt die motivische Nähe hervortreten: Alle Figuren wünschen sich Liebe, Verständnis und Anerkennung, alle besitzen eine durch Atatürks radikale Europäisierung erschütterte türkische Identität zwischen Ost und West. Schon Pamuks zweites Buch kreist also um sein zentrales Thema.

Die Unterschiede des spannenden und recht ungewöhnlichen Familienromans zu späteren Werken sind jedoch unübersehbar, auch wenn sich in ihm bereits Doppelgänger, zahlreiche seltsame Geschichten und eine zur Allegorie tendierende Fantastik finden. Doch anders als "Das stille Haus" sind "Schnee", "Das schwarze Buch" oder "Rot ist mein Name" wahre Buchgletscher, die alles an Tradition und Gegenwart, Traum und Realität mit sich nehmen, was auf ihrem Weg liegt und auf zahlreichen, begeistert genommenen Umwegen. Alle diese Bücher, deren heterogene Teile durch Elemente des Kriminal- und des Bildungsromans miteinander verbunden werden, sowie durch eine Ironie, die der des verehrten Thomas Mann nicht nachsteht, sind Reisen in das Herz der türkischen Finsternis und wieder aus ihr hervor.

Vom alldem sind in "Das stille Haus" lediglich Anklänge zu verspüren. Noch fehlt die etwas später, Anfang der 1980er Jahre, bei einem längeren Aufenthalt in den USA erworbene Kenntnis der Postmoderne und der islamischen Mystik, die zuhause bei Atatürk als reaktionär galt. Noch fehlt die alles überwölbende Melancholie, noch steht die überbordende Lust am Erzählen, die Faruk bereits verspürt, unter dem Vorbehalt des Eskapismus. Dazu gibt es leichte Schwächen in der Figurenzeichnung. Doch über all das sieht man für diesen Blick in die Pamuksche Werkstatt gern hinweg. Es rumort nämlich schon ganz ordentlich in dem stillen Haus.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Orhan Pamuk, "Das stille Haus", aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier, Hanser Verlag

Link
Hanser - Das stille Haus