Ein lebendiges Klavier
Klaviersonaten von Haydn
Joseph Haydns Solo-Sonaten bilden die Entwicklung der klassischen Klaviersonate ab wie ein naturgeschichtliches Buch die Entwicklung vom Affen zum Menschen. Zwei konträre Interpretationen im Vergleich: Marc-André Hamelin und Anne Queffélec.
8. April 2017, 21:58
Erst war's das Clavichord, dann das Fortepiano. Haydn begann seinen Tag jedenfalls spielend. Seinem Biographen teilte er mit, seine Phantasie spiele auf ihm, wie auf einem Klavier... eigentlich sei er nur ein lebendiges Klavier. Es versteht sich von selbst, dass Haydn zum Typus der am Klavier Komponierenden zählte.
Seine über 60 Solo-Sonaten bilden die Entwicklung der klassischen Klaviersonate ab wie ein naturgeschichtliches Buch die Entwicklung vom Affen zum Menschen. Weshalb die wahre Liebhaberin, der wahre Liebhaber nach einer Gesamtaufnahme giert. Und da es Liebe meist genau wissen will, ist die Einspielung von Christine Schornsheim die richtige Wahl, denn sie spielt auf verschiedenen historischen Instrumenten, jeweils passend zur Entstehungszeit der Musik. Und sie spielt ganz fabelhaft.
Atemberaubendes Tempo bei Hamelin
Heuer erschienen ist hingegen ein weiteres Doppelalbum des frankokanadischen Pianisten Marc-André Hamelin. Hamelin beherrscht die gesamte Gefühlsklaviatur, ist technisch brillant und überschreitet gerne die Geschwindigkeitsgrenze, ohne dabei ins Schleudern zu kommen. In atemberaubendem Tempo kann er sogar noch phrasieren. Dafür erntet er Lorbeeren bei der internationalen Kritik. Zu Recht. Der Rest ist Geschmackssache.
Im Gegensatz zum selbstbewussten Spiel Hamelins, der jede Sekunde ganz genau weiß, was er ausdrücken will und uns das unmissverständlich mitteilt, scheint die Französin und ehemalige Brendel-Schülerin Anne Queffélec auch Fragen zu stellen. Für den Zuhörer bleibt Raum übrig für eigene Interpretationen, er fühlt sich aufgefordert mitzudenken, denn oft wirkt die Aussage mehrdeutig. Queffélecs Haydn ist fragil.
Für Frauen komponiert
Ist das Zufall, dass mir heute ausgerechnet Aufnahmen von zwei Pianistinnen empfehlenswert erscheinen, noch dazu mit so konträren Zugängen: die eine geübt in historischer Aufführungspraxis auf eben solchem Instrumentarium, die andere mit extrem romantischer Attitüde? Oder hat mir das Bewusstsein einen Streich gespielt, mich das Wissen korrumpiert, dass Haydn die Mehrzahl seiner Sonaten dezidiert für Frauen komponiert hat? Klavierschülerinnen, Gönnerinnen, Virtuosinnen, sogar eine Komponistin war dabei, Marianna Martines. Nicht zu vergessen Therese Jansen, der zwei seiner Klaviertrios (siehe auch den entsprechenden Artikel von Albert Hosp) und zwei Londoner Sonaten gewidmet sind, Krönungen des Haydnschen Klavier-Schaffens geschrieben für eine außergewöhnliche Pianistin.
Nein, ohne den Haydn von Alfred Brendel, der ihn in allen Winkeln aufspürt, wäre die pianistische Haydn-Landschaft ärmer, auch Andreas Staier auf entsprechenden historischen Instrumenten möchte ich nicht missen. Als Interpretierender kann man nur eines tun: Sich auf das Abenteuer Haydn einlassen und weiter experimentieren. Und als Rezipierender? Hier gilt noch immer, was die "Gallerie der Tonkünstler" in seinem Nachruf so kurios konstatierte: "Die junge Schöne sowohl, als der bei Partituren ergraute Kontrapunktist hören seine Werke mit Vergnügen."
Hör-Tipp
Ö1 bis zwei, Montag bis Samstag, 13:00 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
CD-Tipps
Joseph Haydn, Piano Sonatas, Marc-André Hamelin, Hyperion
Joseph Haydn, Sonaten & Variationen, Anne Queffélec, Mirare
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