Ein heimatliches Element

Der Refrain in der Musik

In der Popmusik ist der Refrain eine sich wiederholende Struktur, die dem Hörer das Gefühl vermittelt, die Musik zu durchschauen und Teil von ihr zu werden. Im Refrain kann Bekanntes wahrgenommen werden: man fühlt sich durch den Refrain zu Hause.

Ein Kind, das im Dunkeln Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren.
(Gilles Deleuze/Felix Guattari, "Tausend Plateaus", 1997)

Der französische Philosoph Gilles Deleuze beschreibt die affektiven Momente in der Musik, wobei "das Kind" für einsames Individuum steht. Deleuze glaubt, dass im Besonderen der Refrain, die Wiederkehr des Identischen in einem Lied, stabilisierend und beruhigend wirkt. Jenes "Kind", das den Refrain kennt und ihn vor sich her singt oder summt, hat keine Angst und fühlt sich nicht länger alleine.

Die musikalische Form als Rhizom

In den Schriften von Gilles Deleuze wird Musik nur nebenbei erwähnt, dennoch interessierte ihn, was Kunst und Musik emotional bewirken können. Musik sei kreative "Deterritorialisierung", wogegen der Refrain ein beruhigendes, "heimatliches" Element sei: "Musik hört nicht auf, ihre Fluchtlinien ziehen zu lassen, gleichsam als TransformationsVielheiten, und kehrt dabei sogar ihre eigenen Codes um; die musikalische Form ist so bis in ihre Brüche und Wucherungen hinein, dem Unkraut vergleichbar, ein Rhizom."

Der Musiker und Lektor an der Fachhochschule Salzburg Didi Neidhart knüpft an den 1995 verstorbenen Poststrukturalisten Deleuze an, wenn er das Prinzip der Wiederholung in der Musik heraushebt: "Der Refrain schafft kleine Punkte der Ruhe in einem riesigen Chaos. Tiefgreifende individuelle Hörerfahrungen entstehen aber in den seltensten Fällen durch den Refrain, sondern meistens durch Geräusche und sonische Irritationen." Dennoch glaubt auch Neidhart, dass, wenn ein Gefühl über Musik transportiert wird, es erst bei der Wiederholung im Gedächtnis gespeichert wird.

Die Wirkungskraft des Refrains

In der Popmusik wird auf die textliche Ausgestaltung und die Komposition des Refrains besonderer Wert gelegt. Die Struktur eines Popsongs verlangt, dass, bei einer durchschnittlichen Länge von drei Minuten, der Refrain spätestens nach einer Minute Laufzeit zu hören ist und dieser zumindest zweimal wiederholt wird. Über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg sollen sich im Refrain die Emotionen eines Songs ausdrücken, Menschen durch ihn berührt und bewegt werden. Die Wirkungskraft des Refrains entscheidet, ob ein Song globale Hitparadentauglichkeit hat oder nicht.

Versteht man Musik als "emotionale Sprache", wie die Musikpsychologin Helga De La Motte, dann ist der Refrain der Moment, in dem Musik für die Hörerinnen und Hörer verständlich wird: "Durch den Refrain gibt es einen Wiedererkennungseffekt, der uns erlaubt, das Wiedererkannte mitzusingen und damit selbst zum Subjekt, zum Teil des Songs, zu werden." Neben dem Klatschen, den rhythmischen Elementen, sei das Mitsingen bei einem Refrain eine anthropologische Konstante in der Musik.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 21. bis Donnerstag, 24. Dezember 2009, 9:45 Uhr