Skurrile Geschichten von Jirí Kratochvil
Brünner Erzählungen
Bei Jirí Kratochvil dreht sich alles um Brünn, Brünn ist seine Welt, und was die Welt ist, wird sichtbar in Brünn. Tragische Ereignisse, heikle Themen der Geschichte - nichts kann Kratochvil hindern, seinem makabren Humor freien Lauf zu lassen.
8. April 2017, 21:58
Ein Leben oder ein ganzes Jahrhundert, verdichtet zum surrealen Bilderbogen eines Romans - so kannte man bisher den Brünner Autor Jirí Kratochvil, den Milan Kundera als "das größte Ereignis der tschechischen Literatur nach 1989" bezeichnet hat. Jetzt ist er im ersten Programm des Braumüller Literaturverlags mit Kurz- und Kürzestgeschichten vertreten - "Brünner Erzählungen" heißt der Band.
Immer mittendrin
Bei Kratochvil dreht sich alles um Brünn, Brünn ist seine Welt, und was die Welt ist, wird sichtbar in Brünn. Vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart reicht das Kaleidoskop an Geschichten, und ihr Autor ist immer mittendrin in seinen Figuren, sie sprechen ihn an als Jirí Kratochvil, damit er auch ja nicht zu verwechseln ist. Stadtviertel und kleine Details, kommunistische Politiker, tschechische Mehlspeisen oder Künstler und Architekten - alles ist real, ein Stadtplan und ein Glossar geben dem deutschsprachigen Leser dankenswerterweise Auskunft.
Eingespannt sind diese Realitätspartikel freilich in ein surrealistisches Karussell, das sie gehörig durcheinanderwirbelt. Und immer wieder wird dieses Erzählkarussell selbst ironisiert: So tauchen einmal zwei mit Gurken beladene Lastwägen nur deswegen auf, um der Erzählung einen Namen zu geben.
Die Katze hört alles
Wenn Jirí Kratochvil phantasiert und flunkert, sind die Grenzen von Raum und Zeit wie ein lächerliches Regelwerk lustvoll außer Kraft gesetzt, was nur deswegen verwundert, weil seine Geschichten Anfänge und einen Erzählduktus haben, die so tun, als würden ganz hausbackene Dinge erzählt. Es beginnt mit einem Dialog über weiße Katzen: Die meisten von ihnen sind taub, sagt ein Freund. Aber einige wenige haben ein außergewöhnliches Gehör. Und schon gerät dessen weiße Katze in den Blick, die das gesamte Klangvolumen der Stadt intus hat.
Und siehe da, der Freund übersiedelt weit weg, meldet Telefon und Internet ab, zieht sich von der Welt zurück, aber fordert den Erzähler brieflich auf, etwas gegen seine quietschende Badezimmertür zu unternehmen. Die Katze hört einfach alles. Und irgendwie scheint sich das auf ihren Besitzer zu übertragen.
Tausche Brief gegen Picasso
Tragische Ereignisse, heikle Themen der Geschichte - nichts kann Kratochvil hindern, seinem makabren Humor freien Lauf zu lassen: Die zweite Erzählung kreist um den Kunstsammler Pavel Sovadina und den Brünner Deutschen Dr. jur. Horst Sack. Der Sammler besitzt einen Picasso aus der "rosa Periode", und Sack, der Nazi, will das Gemälde unbedingt haben.
Er besucht Sovadina und erpresst ihn mit zwei Briefen: "Der erste Brief hat, wie Sie sehen, eine Marke, und ich werfe ihn in Kürze in den Briefkasten, und der zweite hat keine Marke, und den tausche ich jetzt mit Ihnen gegen das Picasso-Bild, und Sie bringen den Brief zum Postkasten am Gestapo-Gebäude. In dem ersten Brief teile ich mit, dass Ihr Sohn ein gefährlicher Feind des Reichs ist, und in dem zweiten nehme ich es wieder zurück und erkläre, ich hätte mich geirrt und es sei völliger Blödsinn."
Nach diesen Sätzen stellt der Erzähler klar: Der erste Brief enthielt ein leeres Blatt, der zweite eine freundschaftliche Einladung an den Gruppenführer zu einem Mittagessen mit der Familie. Doch ein Satz darin wird Sack zum Verhängnis: Man hält ihn für einen Mitwisser an einem Attenta auf Hitler, er wird sofort hingerichtet. Die Lehre aus der Geschichte: Man darf Kunst eben nicht auf Schönheit reduzieren, sie ist auch Weissagung, Warnung, Orakel. Und die Erzählung schließt wie ein gutes altes Märchen: "Na, und das ist alles, es ist schon Schlafenszeit, liebe Kinder."
Skurrile Einfälle
Genüsslich setzt Kratochvil die Eigendynamik der Ereignisse und ihre absurden Kapriolen in Szene. Die Erzählung "De profundis" kreist um den schrecklichen Oberst Alzheimer, einen tyrannischen Altkommunisten, den ein Freund des Erzählers in der Weihnachtsnacht 1988 vor seiner Haustür liegend findet. Alzheimer vermutet in ihm jedoch einen Priester - vermutlich kannte er ihn nur, weil er ihn in den 1950er Jahren verhört hat - und will beichten. Und der Freund, der nicht einmal ein "Vater unser" beten kann, ist von dem Erlebnis so gerührt, dass er Priester wird.
Ein Gelehrter fährt zu einer Konferenz über Heideggers ontologische Differenz, und als er glaubt, in der fremden Stadt zu sein, kommt er plötzlich in die eigene Wohnung, wo er in Hinkunft sich selbst zusehen und quasi als sein besseres, bewussteres Selbst weiterleben kann.
Ein Mann und eine Frau fahren mit dem Aufzug, darin ist auch eine alte Dame, und plötzlich wird ihnen eröffnet, sie müssten nun der Himmelfahrt dieser Dame beiwohnen. Nur durch einen schnellen Geschlechtsakt können sie diese Himmelfahrt noch stoppen - so werden sie zu Vater und Mutter des Erzählers.
Eine Maus "mit der greisen Stimme des blutrünstigen Generalissmimus Stalin" will eine Frau als Schreiberin seiner Memoiren engagieren. Als diese dafür sorgt, dass ihre Katze diese Maus frisst, da spricht Stalin eben aus der Katze. Also setzt sie diese Katze ihrem Liebsten als Kaninchenbraten vor, und siehe, da schreitet Stalin als ihr Geliebter durch die Wohnung. Nein, den abstrusen Einfällen Kratochvils sind keine Grenzen gesetzt.
Parodierender Surrealismus
In einem der Texte preist Kratochvil die "Engel der Nutzlosigkeit", was einen dazu verleiten könnte, auch seine Erzählungen zu solchen Engeln zu erklären, denn sie wollen auf nichts hinaus, auf keine Lehre und keine Botschaft. Ihr Fabulieren entfaltet sich frei, ihr Surrealismus parodiert genüsslich traditionelle Erzählelemente, besonders die Leser-Anrede. Und hehre Theorien sind eine willkommene Zielscheibe: Nicht nur Heidegger bekommt sein Fett ab, auch Kant, wenn es heißt: "über den Katzenköpfen strahlt ein etwas anderer Sternenhimmel und sie tragen ein etwas anderes moralisches Gesetz in sich als wir, wie man schon im alten Ägypten wusste."
Das Surreale in diesen Texten kommt immer vor dem sogenannten Realen, hier ist von den Träumen die Rede, von denen es heißt, dass ihnen "unser Leben lediglich als Projektionsfläche dient". Das ist das Sympathische an diesen Texten, von denen man nur nicht zu viele hintereinander lesen darf, sonst dreht sich das surreale Karussell so schnell, dass die Texte miteinander verschwimmen. Was natürlich auch heißt, dass der Erzählgenerator in Gefahr ist, sich totzulaufen.
Feuerwerk mit vielen Funken
Nicht alle Erzählungen sind auf demselben Niveau, manche muten auch an wie Fingerübungen oder Einfälle, die nicht zu Ende gespielt sind. Alle zusammen ergeben ein fulminantes Feuerwerk, in dem man viele Funken genießen kann, doch den großen, den bei uns noch immer schwer unterschätzen Erzähler, der - wie es Elias Canetti ausgedrückt hat - "das Jahrhundert bei den Hörnern packen" will, findet man doch eher in den Romanen, vor allem in dem 1996 auf Deutsch erschienenen "Inmitten der Nacht Gesang."
Wer kurze Texte mag, in denen das Surreale nicht versponnen elitär daherkommt, sondern verbunden mit ganz alltäglichen Wahrnehmungen, die aus diesem Alltag hinauswachsen und kippen, der sollte eher zu den beiden Erzählbänden von Alois Hotschnig "Die Kinder beruhigte das nicht" und "Im Sitzen läuft es sich besser davon" greifen. Hotschnig arbeitet kalkulierter und genauer als Kratochvil in seinen Erzählungen. Wer aber das unvergleichbare Flair von Brünn sucht oder den Traumata der tschechischen Geschichte im 20. Jahrhundert literarisch nachgeht, der kommt um Kratochvils "Brünner Geschichten" nicht herum.
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 20. Dezember 2009, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Jirí Kratochvil, "Brünner Erzählungen", Übersetzung aus dem Tschechischen von Johanna Posset, Braumüller Literaturverlag
Link
Braumüller - Jirí Kratochvil