Bagels, Blogs und Billigflieger

Unsere Nullerjahre

Judith-Maria Gillies hat sich bei ihrer sehr ironischen Zusammenfassung des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends auf die Epoche-prägenden Momente, Gegenstände, Wortschöpfungen und Trends konzentriert. Es war ein bewegtes und bewegendes Jahrzehnt.

Am 1.1.2000 starteten wir euphorisch ins neue Jahrtausend. Die ganze Welt feierte Millennium und freute sich danach umso mehr, weil der Y2K, der allseits prognostizierte Zusammenbruch der Computersysteme, ausblieb. Die New Economy boomte, die Börsen meldeten Höchstkurse, alles schien prächtig zu laufen - bis zum 11. September 2001.

Ground Zero. Die Stunde null war gekommen. Und mit ihr die Nullerjahre, die erst gerade richtig angefangen hatten. Da wartete ein Jahrzehnt auf uns, in dem wir ständig auf dem Sprung waren - und auf der Suche. Auf der Suche nach einer verloren gegangenen Balance, nach innerer und äußerer Harmonie, nach Gott und der Welt - und natürlich auch nach uns selbst.

Alles "to go"

Die 2000er stellten sich als eine rastlose Dekade heraus. An Haus und Hof gefesselt war keiner mehr. Nicht nur der Coffee, ja das ganze Leben war plötzlich "to go". Einzelkämpfer überall - trotz globaler Vernetzung wuchsen wir selten zusammen, sondern wurden viel mehr zu Ich AGs, die dank Laptop oder Blackberry allerorts und allzeit bereit waren. Hauptsache es bewegt sich was, schien das unausgesprochene Motto zu sein.

Schon als Baby wurden wir im Jogger-Buggy durch den Park gehetzt. Später nahmen wir im iPod die ganze Musik-Sammlung mit in die U-Bahn oder zum Public Viewing. Fürs Kennenlernen blieb uns beim Speed Dating wenig Zeit. Ja selbst als Pensionist konnte man höchstens krankheitsbedingt eine ruhige Kugel schieben. Der hippe Senior machte sich dank Nordic Walking, Viagra und Co. gute zehn bis 20 Jahre jünger und bei Wii Sports sogar neben den 60 Jahre später geborenen Enkerln durchaus passable Figur.

Turnvater Jahn meets Karaoke. Nintendo machte aus unserem Wohnzimmer im Nu einen Boxring mit angeschlossenem Golfplatz, Baseballfeld, Tenniscourt und Bowlingcenter. Das Workout für Couchpotatoes war der Traum aller unsportlichen Sportler!

Im Ego-Trend

Als größte Errungenschaft der Nullerjahre werden wohl die technischen Alltagshelfer in die Geschichte eingehen. Denken wir nur an Google, You Tube, Wikipedia und Co. und die damit verbundene Zeitersparnis, wenn es darum ging, Wissenslücken auszufüllen, die wir wiederum dazu nutzten, um - ja, um was zu tun? Um unter Wärmepilzen vor Coffeeshops über den Klimawandel zu debattieren? Um mit unseren SUVs zum Outlet zu fahren, um uns rechtzeitig mit Energiesparlampen einzudecken?

Allein an der Freizeitgestaltung der Menschen in den Nullerjahren lässt sich der Charakter der Dekade ganz gut festmachen. Arbeitslosigkeit, Aktienabstürze, Terrorgefahr und Klimaerwärmung verunsicherten uns zunehmend. Und weil die Welt da draußen so kalt und hässlich war, sehnten wir uns nach wohliger Harmonie. Ganz dem Ego-Trend verhaftet, natürlich vor allem jener in und mit uns selbst. Wellness hieß der Megatrend des Jahrzehnts. Sich wohlfühlen war der kollektive Wunsch, der im entsprechenden Angebot der darauf spezialisierten Industriezweige seine Erfüllung fand.

Manche versuchten das mit Yoga oder Tai-Chi. Andere mit Ayurveda oder Aromatherapie. Im Day Spa oder beim Osteopathen. Und ob wir nun den Sonnengruß übten oder literweise grünen Tee in uns reinschütteten, das Ziel war stets dasselbe: Wir wollen endlich wieder zu uns selbst finden, Körper, Geist und Seele in Einklang bringen.

Die Vorbereitung wird zur Show

Was soll man dabei niemals vergessen? Richtig! Das Essen. Dessen Zubereitung in möglichst geselligen Runden wurde zu einem weiteren nicht enden wollenden Trend - vor allem im Fernsehen. Ganze Sender beschäftigten sich scheinbar ausnahmslos mit dem Abfilmen der Herstellung von Speisen, so dass man durchaus den Eindruck gewinnen konnte, es handle sich um eine völlig neu entdeckte menschliche Errungenschaft.

Ansonsten wurde in der Television, das, was man früher vor der Show gemacht hat, zu eben dieser: Casting hieß das Zauberwort. Gesucht wurde nach Super- und anderen Stars oder Menschen, die irgendetwas irgendwie besser oder vergnüglicher auf die Reihe bekamen, als andere. Schaltete man um, landete man nicht selten bei Aufarbeitungen der politischen Highlights des Jahrzehnts: Neoliberalismus- und Terrorismusdebatten, Integrationsdiskussionen, Krisenbewältigungen.

Das Gute daran war eigentlich nur, dass uns all diese Konflikte und Kompliziertheiten zwar fertigmachten, aber dass wir keineswegs so aussahen. Wir hatten schließlich Anti-Aging. Mit Hyaluronsäure und Q10 cremten wir die Sorgenfalten einfach weg. Und falls das nicht ganz klappte, konnten wir immer noch zur Botox-Party gehen - oder zum Facelifting.

A wie Alkopops bis Z wie Zungenreiniger

Natürlich werden profundere, kritischere und vor allem intellektuellere Aufarbeitungen der ersten zehn Jahre dieses Jahrtausends geschrieben werden, wahrscheinlich aber kaum welche, die so viel Spaß machen. Denn Judith-Maria Gillies' ironisch bis sarkastische Abhandlungen von Nuller-Themen von A wie Alkopops bis Z wie Zungenreiniger verwandeln die jüngste Vergangenheit tatsächlich in eine greifbare Periode.

Obwohl oder gerade weil wir immer noch Latte macchiato bestellen, auf Sitzsäcken sitzen, Klingeltöne abonnieren, Smoothies trinken oder Wandtattoos anbringen, fühlt es sich oft seltsam an, diese Zeit beschrieben zu bekommen. Unweigerlich fragt man sich dabei auch, wie viele der Modetrends man in den letzten zehn Jahren mitgemacht hat und wie viele man aus welchen Gründen auch immer verweigert hat.

Das Jahrzehnt der "Bagels, Blogs und Billigflieger" endet nur offiziell am 31. Dezember 2009, die meisten Errungenschaften werden uns noch eine Zeit lang begleiten. Das endgültige Urteil, wie wichtig SMS, Facebook und Twitter, die Beckhams, Brangelina und Paris Hilton, Hörbücher, DVD-Rekorder und Stadtstrände tatsächlich waren, werden wir freilich erst in ein paar Jahrzehnten fällen können. Bis dahin kann man mit Hilfe des flotten Zeitreisebuchs den Jetzt-Zustand augenzwinkernd überprüfen und sich dabei köstlich amüsieren.

Sagen Sie nicht, Sie seien nicht dabei gewesen!

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Judith-Maria Gillies, "Unsere Nullerjahre. Das Jahrzehnt der Bagels, Blogs und Billigflieger", Eichborn Verlag

Link
Eichborn - Unsere Nullerjahre