Technik und Natur
Grasblätter
Walt Whitman lebte über 70 Jahre im 19. Jahrhundert. Seine berühmteste Gedichtsammlung, "Leaves of Grass", erschien von 1855 bis 1892 in neun, jeweils erweiterten Ausgaben. Am Schluss waren es über 400 Gedichte, die jetzt auf Deutsch erschienen sind.
8. April 2017, 21:58
Walt Whitman gilt als Begründer der modernen amerikanischen Lyrik. Er lebte über 70 Jahre im 19. Jahrhundert. Seine berühmteste Gedichtsammlung, "Leaves of Grass", erschien von 1855 bis 1892 in neun, jeweils erweiterten Ausgaben - am Schluss waren es über 400 Gedichte. Whitmans Lyrik faszinierte auch deutschsprachige Autoren wie Franz Blei, Gustav Landauer, Yvan Goll und Johannes Schlaf. Doch eine vollständige Übersetzung ins Deutsche fehlte bislang. Nun hat der Lyriker und Übersetzer Jürgen Brôcan die "Leaves of Grass" - die "Grasblätter" - vollständig ins Deutsche übertragen.
Das Selbst sing ich, die schlichte Einzelperson,
Doch spreche ich das Wort, demokratisch, das Wort en-masse
(...)
Den Modernen Menschen sing ich.
Im Predigerton
Obwohl Whitman nicht gerade ein Freund der Prediger ist, wird man beim Lesen seiner Gedichte das Gefühl nicht los, er habe selbst lyrisch gern gepredigt. Die vielen Anrufungen und Aufforderungen in den Gedichten geben Zeugnis davon. Whitman schreibt meist in freien Rhythmen, es gibt in den Gedichten viele Wortwiederholungen, fast zum Überdruss verwendet er die Anapher.
Walt Whitmans Predigerton hat jedoch Methode: Er möchte sich selbst als der Dichter Amerikas vorstellen und dabei alle Amerikaner ansprechen - vom Präsidenten über den Geschäftsmann bis zum Farmer. Der Dichter Whitman ist Demokrat, ist ein Freund der Masse und er besingt die Modernität. Das verlangt nach einer freien, kräftigen Sprache, die nur selten Gelehrsamkeit und keine künstlerisch aufgezwirbelte Versstruktur verträgt. Das alles berücksichtigt Jürgen Brôcan in seiner Übersetzung und macht damit die Lyrik Whitmans für den deutschsprachigen Leser erfahrbar. Das ist eine große Leistung.
Die USA im Aufbruch
Das Lob der Modernität und der felsenfeste Glaube an den Fortschritt in so manchem Gedicht wirkt heute befremdlich.
Niemals war der Durchschnittsmensch, seine Seele, energetischer, gottgleicher,
Sieh, wie er drängt und drängt, er gönnt den Massen keine Rast!
Sein wagemutiger Fuß ist an Land und auf See überall, er kolonisiert den Pazifik, die Archipele;
Mit dem Dampfschiff, dem elektrischen Telegraphen, der Zeitung, den Großmaschinen des Krieges,
Damit und mit weltumspannenden Fabriken verbindet er alle Geographie, alle Länder
Walt Whitman sah die Vereinigten Staaten im Aufbruch, irgendwie zum Guten hin. Und das umfasst eben alle Lebensbereiche. Dabei wirkt seine Fortschrittsgläubigkeit etwas naiv, doch der Dichter war dabei keineswegs ein Freund des Krieges. Nur: Kampf, Mann gegen Mann, und automatische Waffen gegen automatische Waffen gehören eben zum Ganzen des Lebens. Dahinter steckt natürlich eine Wahrheit - auch wenn man sie mit Whitman nicht teilen will.
Ich bin Hafen für Gut und Böse, ich erlaube zu sprechen auf jede Gefahr,
Natur ohne Zaum mit ursprünglicher Kraft.
Natur und Mensch
Das 19. Jahrhundert war die Zeit der Nationalstaaten, der beginnenden Industrialisierung und der aufstrebenden Technik. Dass dies alles dann ein Jahrhundert später in die größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte münden würde, war wohl kaum vorauszusehen. Das Geniale an Whitmans Gedichten aus den "Grasblättern" liegt wahrscheinlich darin, dass er trotz allen Fortschritts die Natur des Menschen unwiderruflich mit der Natur an sich verbindet. Man könnte es so sagen: Wenn Whitman ein neues Dampfschiff lyrisch lobt, dann preist er auch das Wasser, das es trägt.
Ich vermache mich dem Staub, damit ich aus dem Gras wachse, das ich liebe,
Willst du mich zurückhaben, suche nach mir unter deinen Schuhsohlen.
Die Natur und die Natur des Menschen gehören für immer zusammen, sind gemeinsam Kraft, die voranschreitet. Sein, Werden, Vergehen ist der Zyklus, der alles Leben bestimmt. Das ist die Botschaft Walt Whitmans an den modernen Menschen von heute: Es nützt nichts, wenn man ökologisch handeln möchte, und grübelt und grübelt, worauf man verzichten könnte - aber dabei nicht erkennt, dass man selbst Teil der Natur ist.
Ich sehe, daß die elementaren Gesetze sich niemals rechtfertigen;
(Ich schätze, daß ich mich letztlich nicht hochmütiger gebe als
die Wasserwaage, nach der ich mein Haus errichte).
Zeichen des Guten
Walt Whitmans lyrischer Hochmut, indem er den Fortschritt besingt, ist keiner. Es ist eher ein Glaube an eine Zukunft, in der Natur und Technik einander die Hand reichen. Dass dem nicht so geworden ist, ist nicht die Schuld des Dichters. Und dass das Haus der Sprache, welches der Dichter mit seiner lyrischen Wasserwaage erbaut hat, immer noch steht, ist an sich ein Zeichen des Guten. Dass aber die Menschen sogar wieder sensibel werden, im Haus der Sprache das Gras wachsen zu hören, also hellhörig gegenüber der Natur werden, ist mit ein Verdienst der Lyrik von Walt Whitman.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Walt Whitman, "Grasblätter. Gedichte", aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Jürgen Brôcan, Carl Hanser Verlag
Link
Hanser - Grasblätter