Grönlands Flüsse im Bild
Above Zero
Schön und schrecklich zugleich sind die Fotos, die Olaf Otto Becker vom Grönland-Eis gemacht und in seinem Bildband "Above Zero" versammelt hat. Becker verfolgte vier große Flüsse durch die - noch! - eisige Landschaft und die vielen Formen der Natur.
8. April 2017, 21:58
Gekurvte Bänder, die sich in weite Felder eingraben. Schroff konturierte Blöcke, in die tiefe Krater schneiden. Sanfte Wellen, in schrundige Landschaft gebogen. Fingerförmig sich auftürmende Gebilde vor dunkel spiegelndem Grund.
"Im Nebel auf dem Eismeer zu fahren und immer wieder etwas Neues zu entdecken, was man nicht erwartet, sich überraschen zu lassen und zu staunen, das finde ich einfach spannend." Die Bilder, die Olaf Otto Becker vom Grönlandeis zeigt, sind Bilder der Stille. Schneefelder, Eisberge, Rinnsale, Flüsse. Geborstene Oberflächen, zerklüftete Landschaften, tiefe Risse.
"Es fasziniert mich, was die Natur für Formen hervorbringt - aus sich heraus", so Becker weiter. "Nur, die sind sehr vergänglich. Die sind heute da - und morgen sind sie schon nicht mehr da." Eis und Schnee in sich unendlich variierenden Formen - und immer demselben Farbendreiklang: dem Weiß des Schnees, dem Türkis des Wassers, dem Grau des Schmutzes. Grönland - keine unberührte Idylle.
"Ich mache mich auf den Weg in ganz unbequeme Landschaften, um etwas nach Hause zu bringen, um etwas sichtbar zu machen, was man nicht so ohne Weiteres sehen kann", so Becker. "Und es hat solche Bilder vorher meines Wissens noch nicht gegeben."
Weitgehend unbekannte Landschaft
"Above Zero" heißt der Bildband mit Olaf Otto Beckers beeindruckenden Grönlandimpressionen: 78 großformatige Aufnahmen, die eine weitgehend unbekannte Landschaft dokumentieren - und sichtbar machen, was längst bekannt ist und doch nicht gesehen wird: was der Klimawandel aus der Erde macht, in diesem Falle aus Grönland. Becker setzt dabei die in dem Buch "Broken Line" begonnene Arbeit fort, das Bilder zeigte von der Westküste Grönlands.
"Ich bin dort über eine Strecke von 4.000 Kilometern mit dem Schlauchboot entlang gefahren und habe dann mit der Großformatkamera den derzeitigen Zustand dokumentiert, da sich dieser Küstenabschnitt sehr deutlich durch die Klimaerwärmung verändert", erinnert sich Becker. "Jedes Mal, wenn ich dort hingeflogen bin, bin ich über das Inlandeis geflogen und konnte aus dem Flieger heraus diese blauen Seen und Wasseradern sehen. Das hat mich interessiert. Ich wollte dort unbedingt hin."
Und so reiste der Fotograf erneut nach Grönland, diesmal nicht um die Küstenregionen, sondern die Topographie des Inlandeises zu erkunden. Ausgestattet mit Satellitenaufnahmen von der NASA und begleitet von dem auf Polargebiete spezialisierten Sportabenteurer Georg Sichelschmidt, folgte Becker zu Fuß dem Verlauf von Flüssen, die während der warmen Sommermonate zu Tausenden entstehen.
"Das gesamte Eis ist durchfurcht von unendlich vielen Flüssen, die im Abstand von zwei bis drei Metern das Eis zergliedern", sagt Becker. "So ist man permanent dabei, irgendwelche Bachläufe zu überqueren, und das mit einer Ausrüstung von neunzig Kilo."
Kompositionen wie gemalt
Auch wenn sich die Aufnahmen stark ähneln, keine ist wie die andere. Ausgestattet mit Stativ und schwerer Plattenkamera, sind Becker gestochen scharfe, sehr nuancenreiche Fotos gelungen, die manchmal wie gemalt wirken, die in Komposition, Betonung der Horizontlinie und soghafter Tiefenwirkung geradezu "klassisch" erscheinen, Bilder von immer wieder anderen Eisformationen und Flusslinien.
"Wenn man im Nebel Eisberge fotografiert, das hat schon 'was Magisches", meint Becker. "Denn man hat einmal das Meerwasser, dann hat man das Wasser in gefrorener Form, als Eisberg, und dann hat man das Wasser in Dampfform, diesen Nebel. Und natürlich dann auch noch das Licht, das sich unterschiedlich in diesen verschiedenen Aggregatzuständen des Wassers bricht. Das ist eine ganz spannende malerische Sache."
Doch die "malerische Sache" hat dramatische Seiten. Grund ist die Klimaerwärmung. In den vergangenen 15 Jahren stieg die Sommertemperatur in Grönland um über zwei Grad. Der Eisschild, der 80 Prozent Grönlands bedeckt, schmilzt. Die Eisschmelze wiederum legt Ruß und Kohlestaub frei, der sich ursprünglich mit dem Schneefall auf der Eisdecke abgesetzt hatte - Industriestaub, der aus Europa, aus Nordamerika, ja sogar aus dem fast 10.000 Kilometer entfernten China stammt. Diese dunkle Schmutzschicht verringert die Reflexion der Sonnenstrahlung, so dass die Eisoberfläche noch mehr abtaut. 273 Milliarden Tonnen Gletschereis schmelzen Jahr für Jahr in Grönland, immer mehr Flüsse zerfurchen die Landschaft.
"Diese Flüsse fließen nicht bis zum Meer, sondern sie verschwinden auf dem Eis in so genannten Gletschermühlen", erklärt Becker. "Das sind Löcher im Eis, wo dann das Wasser bis zum Grund des Gletschers hinunterfließt. Das kann 800 Meter unter dem Eis weiterfließen. Was dabei passiert ist eben, dass dieses warme Wasser auch den Gletscher von unten anschmilzt, und in der Nähe des Meeres wird dadurch die Geschwindigkeit der Gletscher, die Kalbungsgeschwindigkeit, erhöht, weil jetzt nicht nur der normale Eisdruck da ist, sondern auch noch von unten diese Reibungskräfte reduziert werden."
Urlaub mit Klimaerwärmung
Becker ist mit seiner Kamera nicht nur vier Flüssen gefolgt. Er hat auch das Swiss Camp fotografiert - eine schweizerisch-amerikanische Station für atmosphärische Forschung, mit Wissenschaftlern, die im rauen Polarklima unter schwierigsten Bedingungen Messinstrumente installieren und die Entwicklung des Eisschildes verfolgen; und einen für grönländische Verhältnisse stark frequentierten Ort im Süden des Landes besucht, den dank guter Straßenverbindung leicht zu erreichenden "Point 660", wo Touristen das Grönlandeis erleben können - bzw. das, was davon hier noch übrig ist. Menschen postieren sich zum Foto-Shooting in schmutzig-grauer Schnee- und Pfützenlandschaft. Ein geradezu absurder Fall von Klimaerwärmungstourismus.
"Man fotografiert sich dort, man schaut herum, manche trinken Kaffee usw. Und nach einiger Zeit hat man sich dann satt gesehen, und dann fährt man wieder", so Becker. "Die Leute sind ratlos, möchten etwas sehen von der Klimaerwärmung, laufen dann da rum und eigentlich begreifen sie nicht, was sie da sehen. Das ist auch grundsätzlich das Problem, dass wir die Klimaerwärmung nicht begreifen können. Wir haben nicht die Sinne, um Klimaerwärmung wirklich wahrzunehmen."
Kunst und Dokumentation zugleich
"Above Zero" heißt Olaf Otto Beckers neues Buch. "Above Zero" heißt "über Null", und wie das in Grönland aussieht, wenn die Temperatur den Gefrierpunkt überschreitet, zeigt dieser Band. Er zeigt Fotos, die Kunst sind und Dokumentation, die großartig sind und subtil, präzise und poetisch, die schön sind und schrecklich zugleich, faszinierend und ernüchternd. Türkise Flussbänder, weiße Eisblöcke, rußig-grau gesprenkelte Schneeflächen. Olaf Otto Becker zeigt die Weite und Erhabenheit einer Landschaft, aber auch ihre Versehrtheit und Zerstörbarkeit. Eine Zerstörbarkeit, aus der Zerstörtheit zu werden droht.
Hör-Tipps
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Radiokolleg, "Aufbruchsstimmung in Grönland, Montag, 28. Dezember 2009 bis Mittwoch, 30. Dezember 2009
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Olaf Otto Becker, "Above Zero", Texte von Freddy Langer und Konrad Steffen, Hatje Cantz Verlag
Link
Hatje Cantz Verlag - Above zero