Weihnachtsgeschichten aus Russland

Taiga, Schlitten, Tannenbäume

Die berühmteste russische Weihnachtsgeschichte ist eigentlich ein Ballett und stammt aus Deutschland. Genau betrachtet aber ist Tschaikowskys Ballett "Der Nussknacker" nur die Musik-Variante der Weihnachtsgeschichtenmode am Ende des 19. Jahrhunderts.

Wer kennt sie nicht, den Medizinalrat Stahlbaum, den Paten Drosselmeier, die beiden Kinder Fritz und Marie, den Nussknacker, der sich in einen Prinzen verwandelt, das Heer der Mäuse und all die anderen wunderbaren Dinge, die sich Ernst Theodor Amadeus Hoffmann in seiner Geschichte "Nussknacker und Mausekönig" ausgedacht und 1816 veröffentlicht hat?

Und gibt es wirklich jemanden, der noch nie eine der wunderbaren Melodien gehört hat, die Peter Iljitsch Tschaikowski 1892 für E.T.A. Hoffmanns Geschichte erfunden hat? Genau in der Zeit zwischen 1816 und 1892 ist die russische Leidenschaft für das Weihnachtsgeschichten-Erzählen entstanden.

Ein Zar verordnet Weihnachtsdekoration

Und an allem ist Zar Peter der Große schuld, erzählt Olga Kaminer im Vorwort ihrer Anthologie "Weihnachten auf Russisch": Zar Peter hat im Jahr 1699 den byzantinischen Jahresanfang vom 1. September auf den 1. Jänner verlegt. Zar Peter hat verfügt, dass zum Weihnachtsfeste sämtliche Tore, Hausdächer und Lokale mit Tannenbäumchen zu schmücken waren. Zar Peter hat ferner befohlen, dass auch die Amtsstuben, die Kerker und die Kasernen weihnachtlich zu dekorieren waren.

Die Russen gehorchten zögerlich, denn die Tanne galt ihnen als ein Baum der Deutschen, und sie mochten den fremden Baum erst nicht. Aber schließlich gewöhnten sie sich daran, und spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts konnten sich auch die Russen Weihnachten ohne Tanne gar nicht mehr vorstellen.

Ein Zeitungszar erfindet Weihnachtsgeschichten

Und dann kam einem findigen Zeitungszaren in Sankt Petersburg eine höchst umsatzfördernde Idee: er brachte ein Weihnachtssonderheft mit Gedichten, Geschichten und Reiseberichten auf den Markt. Die Idee war grandios. Weihnachten ohne Sonderheft war fürderhin undenkbar.

Vor allem die wundervollen Weihnachtsgeschichten voller Wunder hatten es dem Publikum angetan. Man riss sich darum, und man freute sich an den vielen Geschichten. Der Bedarf stieg ins Uferlose. Erst wurde die einheimische Produktion durch ausländische Weihnachtsgeschichten ergänzt, und Übersetzer wurden gefragte Leute.

Schweinebraten, Kerzen und Happy End

Schließlich wurde es Mode, selber Weihnachtsgeschichten zu schreiben. War ja auch nicht so schwer, denn wichtig war allein das Happy End, das wie durch ein Wunder zu geschehen hatte - Wundersame Errettungen, wundersame Wiederfindungen, wundersame Wunder …

Die linksliberale Zeitung "Die Rede" hatte das zu folgender "Empfehlung für Autoren ohne Talent" inspiriert: "Sie haben kein Talent? Dann schreiben Sie eine Weihnachtsgeschichte. Jeder Mensch, der zwei Hände und zwanzig Kopeken für Tinte hat, kann eine solche Geschichte schreiben. Dabei ist folgendes zu beachten: Es geht nichts ohne Schweinebraten, Gans, Tannenbaum und einen guten Menschen. Wörter wie 'Stern, Liebe, Kerzen' sollen darin nicht weniger als zehnmal, aber auch nicht mehr als zwei tausend Mal verwendet werden. Und das Glockenbimmeln, das Dahinschmelzen, die Beichte, die Tränen der Erleuchtung dürfen auf keinen Fall am Anfang, sondern nur am Ende der Geschichte stehen. Alles andere ist unwichtig."

Wenn der Mond vom Himmel verschwindet

Natürlich gibt es wirklich wunderbare russische Weihnachtsgeschichten, etwa die 1830/31 zum ersten Mal erschienene Erzählung "Die Nacht vor Weihnachten" von Nikolai Gogol, eine Geschichte über ein Dorf, in dem nichts so läuft, wie es soll: der Mond verschwindet vom Himmel, die Frauen tun nicht, was die Männer erwarten, das Weihnachtsliedersingen wird zu einem ausgelassenen Fest, und der Teufel selbst gerät in Bedrängnis. Oder Dostojewskijs 1876 erschienene russische Version des Andersen-Märchens vom Mädchens mit den Schwefelhölzern "Der Junge beim Herrn Jesus zur Weihnacht".

Es gibt natürlich auch nicht so schmalzige Geschichten, sie entstanden in der schweren Zeit der kommenden Revolution, und auch danach, im Exil. Und dann erst wieder viel, viel später, nach dem Fall des Kommunismus.

Der beschwerliche Weg der Aufrechten

Eine der lakonischesten russischen Weihnachtsgeschichten stammt von Alexej Remisow und beschreibt eine höchst beschwerliche Zugfahrt von St. Petersburg in die Provinz. Gemeinsam mit Agitatoren, streitenden Eheleuten, grölenden Soldaten und anderen seltsamen Reisenden rattert Skorochodow über die russische Weite, aber er kommt nicht rechtzeitig zu Hause an. Vielleicht eine Anspielung auf den beschwerlichen Weg eines Aufrechten durch das Leben?

Remisow, der als junger Mann unschuldig zu sechs Jahren Exil verurteilt wurde, lebte von 1905 bis 1921 in Petersburg, um erst nach Berlin und dann nach Paris zu emigrieren. Seine literarische Aufmerksamkeit galt der Wiederbelebung des Ur-Russischen, das er sowohl in den alten Büchern des 17. Jahrhunderts als auch in der Umgangssprache fand. Kein Wunder, dass Remisow sogar von seinen Freunden als Sonderling betrachtet wurde. Er starb verarmt und einsam am 26. November 1957 in Paris.

Service

Buch Margit Bräuer (Hg.), "Der silberne Wolf. Weihnachtsgeschichten aus Russland", Aufbau-Verlag (1991)

Buch Olga Kaminer, "Weihnachten auf Russisch", Ullstein (2007)

Buch Monika Blume, "Weihnachten in Russland. Erzählungen von Dostojewksij bis Tolstoi", Sanssouci (1997)

Buch E.T.A. Hoffmann, "Die Serapionsbrüder", Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch Band 28

DVD "Nutcracker". With St.Petersburg's worldfamous Mariinsky (Kirov) Ballet. Tchaikovsky's complete Score conducted by Valery Gergiev. Production by Mikhail Chemiakin. DECCA 074 3217