Reportagen aus 2.500 Jahren

Nichts als die Welt

Plinius, Voltaire, Heine, Frisch, Garcia Marquez und Enzensberger sind die Autoren eines Buches, das die besten Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2.500 Jahren versammeln will. Georg Brunold ist der Herausgeber des Buches.

So haben sie auszusehen, die Bücher, die man gerne verschenkt und die man sich selbst nicht kauft, weil sie erstens zu groß und zweitens zu teuer und drittens so umfangreich sind, dass man vermutlich nicht die Zeit hat, sie jemals zu lesen.

"Nichts als die Welt" ist ein wirklich beachtliches Buch, so schön und aufwändig gestaltet, wie es auf den Oberschenkeln des Lesers lastet, erinnert es an meine Shakespeare-Gesamtausgabe in einem Band. Im Liegen kann man die Lektüre vergessen, Sitzleser benötigen unbedingt einen Tisch. Aber so ist das, wenn man sich durch zweieinhalbtausend Jahre Reportagen und Augenzeugenberichte lesen will. Es ist in dieser Zeit so fürchterlich viel passiert auf der Welt, dass selbst bei allerkritischster Auswahl ziemlich viele Texte übrig bleiben.

Reportage ist Literatur

Damit sind wir schon beim Inhaltlichen, und das ist bei einem Buch allemal gewichtiger als die Kilos, die es auf die Waage bringt. Georg Brunold, der Herausgeber, möchte beweisen, dass es sich bei der Reportage um ein literarisches Genre handelt und nicht bloß um eine höhere Form des Journalismus.

Die Reportage ist eine wahrhaft universelle Gattung. Sie kann und darf fast alles, solange sie vom Tathergang und der Sachlage, von denen darin die Rede ist, nicht schon lückenlose Kenntnis voraussetzt.

Es geht nicht bloß um die Wiedergabe von Gesehenem und selbst Erlebtem, sondern vielmehr um den Vorgang des Einsickerns des Tatsächlichen in das erzählende Ich. Welche Sprache und welche Form also findet ein Autor, um aus dem Erleben eine Wirklichkeit zu konstruieren, die für eine Vielzahl von Lesern, die nicht Augen- und Ohrenzeugen waren, nachvollziehbar ist.

Dabei gewesen

Georg Brunold fasst den Begriff der Reportage sehr weit, ihm genügt es, dass jemand behauptet, an einem bestimmten Ort bei einem bestimmten Ereignis dabei gewesen zu sein.

Der Erzähler ist ein Augenzeuge. Er hat den Leser auf die Bühne der dramatischen Verstrickungen zu führen und mit den Helden auf Sicht- und Hördistanz zu bringen.

Das beginnt bei den antiken Historiographen wie Herodot und Thukydides, Autoren, die die damals bekannte Welt bereisten und nüchtern, in Form von Chroniken, über das Gesehene berichteten. Freilich, von Reportage kann hier keine Rede sein, dazu fehlt nämlich die Selbstwahrnehmung des Autors, also die Freiheit zu sagen: Ich habe das erlebt und ziehe daraus meine Schlüsse. Das reflektierende Ich und das, was man die Weltsicht nennt, kommt erst im 18. Jahrhundert zum Tragen.

Davor haben wir es mit Aufzeichnungen zu tun oder mit Texten, bei denen Dichtung und Wahrheit nicht so recht auseinanderzuhalten sind. Platons Erzählung vom Tod des Sokrates etwa, die Schilderung des Ausbruchs des Vesuvs von Plinius, Lampert von Hersfelds Beschreibung des Canossagangs Heinrichs IV., Marco Polos Bericht von seiner Begegnung mit Kublai Khan - und dann natürlich die Chroniken der Seefahrer und Eroberer: Kolumbus, Vespucci, Cortés, Pigafetta, De las Casas. Wir wissen heute, dass wir diesen durchaus spannenden Berichten nicht bedingungslos glauben dürfen, dass es in diesen Texten zu einer Vermengung von Tatsachen und Wünschen, zu Glättungen und zu Selbstzensur gekommen ist.

Reaktion auf die Wirklichkeit

So weit so gut, aber wenn in diesem Buch dann auch fiktive Texte als Beispiele für die Kunst der Reportage angeführt werden, nur weil darin auf reale Verhältnisse Bezug genommen wird, darf man sich wundern. Sicher, Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen hat zwar den Dreißigjährigen Krieg erlebt, auch als Soldat, und sein Roman "Der abenteuerliche Simplicissimus" von 1630 beinhaltet viele drastische Darstellungen der Kriegsgräuel - aber es ist eben doch ein Roman und keine Reportage.

Natürlich reagiert Literatur immer auch auf die Wirklichkeit, in der sie entsteht, sie ist mitunter sogar wahrhaftiger als eine Reportage, verlassen kann man sich natürlich trotzdem nicht auf sie. Sonst würde es reichen, Tolstoi und Stendhal zu lesen, wenn man alles über die Feldzüge Napoleons wissen möchte.

Entwicklung des Berufsjournalismus'

Auf Reportagen stößt man erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und das nicht zufällig, da sich in jener Zeit auch der Berufsjournalismus entwickelt. Und mit ihm die Darstellung der Wirklichkeit, gespiegelt in den sozialen und politischen Verhältnissen. Das Entscheidende ist die Haltung, die der Autor dieser Wirklichkeit gegenüber einnimmt: Er will seinen Text nicht als Belletristik verstanden wissen, als konsumierbare und kurzweilige Lektüre, sondern er schreibt, um Wirkung zu erzielen. Im besten Fall Veränderung.

Es sind Dichter und Journalisten in Personalunion, die die Reportage als eigenständiges Genre erfinden: der Engländer Daniel Defoe, der Ire Jonathan Swift, die Franzosen Voltaire, Diderot, Raynal und Mercier. In ihren Arbeiten geht es um die Pest als soziales Phänomen, um die wirtschaftliche Lage Irlands, um den Sklavenhandel und um die Beschreibung der Großstadt als gesellschaftliches Biotop.

"Die großen Städte sind ganz nach dem Geschmack der absoluten Regierung", schreibt Louis-Sébastien Mercier 1781 über Paris.

Auch tut diese Regierung alles, die Menschen hier zusammenzupferchen. Die Großgrundbesitzer lockt sie hierher mit dem Reiz von Luxus und Genüssen, die Masse treibt sie hier zusammen, wie man Schafe auf einer Weide einpfercht, so dass den Rachen der Hunde eine kleinere Fläche zu überwachen bleibt und sie sie leichter den allgemeinen Gesetzen unterwerfen können.

Vertiefende Geschichten

Ab dem 18. Jahrhundert und mit einer rapid wachsenden Presselandschaft in Europa und den USA ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen abseits der tagesaktuellen Berichte unzählige vertiefende Geschichten, in denen die Lebensrealität durch Sprache vergegenwärtigt wird. Herausragend sind etwa die Reportagen, die Henry Mayhew im "Morning Chronicle" über die Armen von London geschrieben hat. Oder die Kriegsreportagen des irischen Journalisten William Howard Russell, etwa über die Schlacht von Sedan 1870.

Kurz nach sechs Uhr gelangte ich zu einer Höhe oberhalb der Maas. Rasch verzogen sich die Nebelschwaden. Der Vorhang ging hoch, das Schauspiel konnte beginnen. Ich hielt nach den Preußen Ausschau. Um halb sieben gestaltete sich die Kanonade auf der rechten Seite in Richtung Douzy immer lebhafter. Die Bajonette und Helme der bayrischen Kolonnen funkelten in der kräftigen Sonne. Etwas weiter rechts ragten die Häuser und Dächer von Bazeilles aus dem Dunst hervor. Ich bemerkte Rauchsäulen, die entweder von den Bränden der letzten Nacht oder vom gerade eröffneten Feuer der bayrischen Geschütze herrührten.

Aus dem Vollen geschöpft

Herausgeber Georg Brunold kann, was die vergangenen 150 Jahre betrifft, aus dem Vollen schöpfen: Mark Twain, John Dos Passos, George Orwell, Joseph Roth, Egon Erwin Kisch, Graham Greene, Georges Simenon, Arthur Koestler, Norman Mailer, Truman Capote - das sind nur einige Autoren, die als Journalisten und als Schriftsteller gearbeitet haben. Dass die Reportage ein zweitrangiges literarisches Produkt sei, kann man also nicht behaupten, auch wenn viele dieser Texte deshalb im Auftrag und gegen gutes Honorar entstanden sind.

Von den Zeitgenossen finden sich Christoph Ransmayr, Richard Kapuscinski, Bruce Chatwin, Ilija Trojanow und Karl Markus Gauß in Brunolds Auswahl. Deutlich wird dabei, dass die Reportage ein männliches Genre ist, Autorinnen sind die Ausnahme - ganze zehn finden sich im Zeitraum von 1900 bis 2000. In den übrigen 2.400 Jahren hat Georg Brunold nur eine Autorin ausfindig gemacht, die russisch-schweizerische Abenteurerin Isabelle Eberhardt, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in Männerkleidern durch Algerien reiste, zum Islam konvertierte und 27-jährig starb.

Emanzipation der journalistischen Prosa

Klarerweise muss so eine Anthologie lückenhaft sein und man könnte ein Register von Autorinnen und Autoren erarbeiten, die nicht darin vorkommen. Das wäre aber müßig. Denn - Zitat Georg Brunold:

Worum es in der literarischen Reportage geht, ist die Emanzipation der journalistischen Prosa zum Erzählen, die Befreiung und Beförderung des Reporters zum Erzähler.

Und diesen Nachweis leistet dieses Buch, dem einen oder anderen Einwand zum Trotz.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Georg Brunold (Hg.), "Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren", Galiani Verlag

Link
Galiani Verlag - Nichts als die Welt