Wer hilft wann?

Über die Pflicht zum Eingreifen

München, Herbst 2009: Als ältere Jugendliche jüngere bedrohen, geht ein Mann dazwischen und wird von den jungen Gewalttätern zu Tode geprügelt - vor den Augen zahlreicher anderer Personen. Was bewegt Menschen dazu, weg zu sehen oder einzugreifen?

Nur jeder Zehnte würde sich in eine gewalttätige körperliche Auseinandersetzung einmischen, zeigte eine Befragung von 1.100 Österreichern und Österreicherinnen, vorgenommen vom Meinungsforschungsinstitut IMAS im Jahr 2007. Und das, obwohl jede dritte befragte Person meinte, dass in solchen Situationen ein Eingreifen durchaus erforderlich sei.

Wissenschaftler haben Menschen, die einer unterstützungsbedürftigen Person nicht geholfen haben, nach deren Motiven gefragt. Die drei am häufigsten genannten Gründe waren: Angst, Unwissen und Verwirrung. Angst davor, im Falle eines Eingreifens selbst gewalttätige Konsequenzen erfahren zu müssen, Unwissen darüber, wie man richtig eingreift und Verwirrung bzw. Unsicherheit, ob die Situation einen überhaupt etwas angeht und man berechtigt sei, einzugreifen.

Sozialisation entscheidet über zivilcouragiertes Handeln

Gerd Meyer, langjähriger Leiter des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Tübingen und Professor für politische Kulturen und politische Psychologie hat als einer von nur wenigen Wissenschaftlern jahrelang zu Fragen der Zivilcourage geforscht und zahlreiche Bücher und Sammelbände darüber publiziert. Sein Fazit: "Es sind personale, soziale und biografische Faktoren, sowie so genannte Orientierungsmuster, die Zivilcourage fördern oder verhindern."

Zu den personalen Faktoren zählt Meyer moralische Überzeugungen und Gefühle, soziale Kompetenzen und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Als soziale Faktoren gelten etwa die soziale Position des Einzelnen in der Gruppe und gesamtgesellschaftlich anerkannte Werte.

Als Beispiele für biografische Faktoren nennt Meyer die Sozialisation und die Autoritätsbeziehungen in der Familie, sowie die persönliche Lebenserfahrung. "Mit "Orientierungsmuster" ist gemeint, ob jemand eher konformistisch oder non-konformistisch eingestellt ist und, wie stark jemand auf persönliche Vorteile aus ist bzw. bereit ist, Nachteile in Kauf zu nehmen", so Meyer.

Subjektive Wahrnehmung spielt eine große Rolle

Doch nicht nur von dem Beteiligten selbst, sondern auch der Situation an sich hängt die Wahrscheinlichkeit ab, ob zivilcouragiert gehandelt wird, oder nicht. Eine entscheidende Rolle spielt wahrgenommene oder zugeschriebene Schuld oder Unschuld der un-terstützungsbedürftigen Person.

Gerd Meyer: "Hält man diese für unschuldig an ihrer Notsituation, so ist die Bereitschaft für sie einzutreten, deutlich größer als bei Personen, bei denen Selbstverschulden angenommen wird." Zudem zeigen Studien: Je mehr Menschen Zeuge von problematischen Szenen werden, desto geringer ist die Bereitschaft jedes Einzelnen von ihnen, zu handeln.

Trainings als Generalprobe

Mut zum Handeln ist nicht nur in Diktaturen, die bürgerliche Grundrechte verletzen, gefragt, sondern auch in funktionierenden Demokratien, im "Kleinen", im Umfeld von Familie, im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz und in der Schule.

Experten halten das präventive Durchspielen von Gewaltsituationen und Situationen in denen Zivilcourage gefördert sein könnte, für essentiell. "So eine geschützte Generalprobe bereitet auf eine schnelle und angemessene Reaktion im Ernstfall vor", sagt Dieter Lünse. Er leitet das Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation in Hamburg und veranstaltet seit über 15 Jahren Zivilcourage-Trainings. Pro Jahr werden diese von 2.000 Schülern und Schülerinnen absolviert - in Österreich fehlen derlei umfangreiche Initiativen völlig.

Angst vor und Unwissen über zivilcouragiertes Handeln können abgebaut werden - entsprechende Trainings entwickeln Sozialpsychologen, Politologen, Pädagogen und Mediatoren. Die beiden Hauptziele, die Teilnehmende erreichen sollten: Sie sollten Situation erkennen können, in denen es notwendig ist, einzugreifen und erlernen, wie man richtig eingreift.

Wie im Falle des Falles handeln?

Wie kann man gekonnt in heikle Situationen eingreifen? Der Jurist und Politologe Volker Frey leitet Zivilcourage-Workshops bei ZARA - dem Verein für Zivilcourage und Antirassismusarbeit und gibt Tipps: "Was ich in Workshops besonders oft erlebe, ist, dass sich Menschen viel zu große Ziele setzen. Der erste Schritt ist, sich bewusst zu werden, dass es zu zweit oder zu dritt leichter ist, einzugreifen - das heißt: man sollte stets andere anwesende Personen um Unterstützung bitten. Das andere ist, dass man auch versucht, den Täter zu ändern und eine Grundsatzdiskussion beginnt, wenn dieser jemanden beschimpft. Deeskalierender ist es, sich um das Opfer zu kümmern, mit diesem Blickkontakt aufzunehmen und es anzusprechen. Gegebenenfalls kann man sich auch zwischen Opfer und Täter stellen, wie auch, dass Opfer einfach vom Täter weg delegieren."

"Den Täter nicht provozieren"

Bevor man in gewalttätigen Situationen einschreitet, empfiehlt es sich auch, Einsatzkräfte wie Polizei oder Rettung zu alarmieren - man kann den Täter auch darauf hinweisen, dass man das getan hat bzw. ihn mit der Handy-Kamera fotografieren. Bereits mit so kleinen Handlungen ließen sich meistens gute Erfolge erzielen, so Frey.

Weitere Möglichkeit, einer Eskalation - etwa im Falle einer Schlägerei - vorzubeugen, nennt der Hamburger Zivilcourage-Trainer Dieter Lünse: "Wichtig ist, dem Täter nicht zu nahe zu kommen, mindestens eine Armlänge Abstand zu halten. Weiters empfiehlt es sich, den Täter - falls man ihn kennt - namentlich anzusprechen, bzw. ihn zu Siezen."

Ob zivilcouragiertes Handeln schließlich erfolgreich ist, oder nicht, hängt entscheidend von der Kommunikationsfähigkeit der beteiligten Personen ab. Den Täter zu beschimpfen und ihn dadurch noch mehr in Rage zu bringen, macht kaum Sinn. Besser sei es, die konkrete Tat zu benennen und damit klarzumachen, dass man derartiges Handeln und nicht die gesamte Persönlichkeit des Täters verurteilt, so Dieter Lünse abschließend.

Service

Gerd Meyer, Ulrich Dovermann, Siegfried Frech, Günther Gugl (Hrsg.): "Zivilcourage lernen. Analysen - Modelle - Arbeitshilfen.", Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004

ZARA - Training
Universität Tübingen - Gerd Meyer
IKM Hamburg
Der Sammelband "Zivilcourage lernen (pdf)