Das Amerika, das niemand wahrhaben will

Slab City, Kalifornien

Slab City ist auf keiner Landkarte eingezeichnet. Offiziell gibt es den Ort ebenso wenig wie die Menschen, die dort in verrosteten Wohnmobilen leben. Die meisten Bewohner der illegalen Kommune in Südostkalifornien sind Außenseiter, Kranke und Obdachlose.

Er sei, sagt Wayne, auf dem Weg in die Stadt gewesen, um eine Flasche Whiskey zu kaufen, da habe er Linda erstmals gesehen: "Sie war dabei, in meinen alten Trailer einzubrechen." Wayne ist 56 Jahre alt, Vietnamveteran und verurteilt wegen Totschlags, das Lächeln in seinem hochroten Gesicht wirft viele Falten: "Ich habe so lange geschimpft, bis sie versprach, die Sache später zu bereinigen."

Als Linda abends kam, hat sie seinen Trailer sauber gemacht und ist geblieben. Seit kurzem sind die beiden verheiratet. Auf die Frage, was sie sich vom Leben verspricht, sagt die 21-jährige Schulabbrecherin kichernd: "Mietfrei wohnen."

Die Geschichte von Wayne Smith und Linda Brown ist nur eine von vielen, die sich in Slab City ereignen. Der Ort liegt 50 Meilen von der mexikanischen Grenze entfernt und ist auf keiner Landkarte eingezeichnet. Offiziell gibt es ihn ebenso wenig wie die 2.000 Menschen, die dort leben: in verrosteten Wohnwagen, ohne Strom, ohne Kanalisation. Das Trinkwasser kommt mit dem Tankwagen.

Der letzte freie Platz Amerikas?

Zahllose Reporter haben die illegale Kommune seit ihrer Entstehung beschrieben und sie verklärt als den letzten freien Platz Amerikas. Keiner verkörpert diese romantische Anarchie so anrührend wie Leonard Knight. Der 74-Jährige hat in 19 Jahren Flickschusterei einen drei Stockwerke hohen Hügel geschaffen, so kunterbunt und verschachtelt, dass er auch von Gaudi oder Hundertwasser sein könnte. Das meiste, was er für sein Lebenswerk - den "Salvation Mountain" - braucht, sucht der alte Mann sich in der Wüste zusammen. "Die Katakomben", strahlt er, "sind ganz aus Lehm, den ich mit Wasser, Stroh und alten Lasterreifen vermischt habe!"

Und doch steht Leonard, der den größten Teil seines Lebens in Obdachlosenheimen und mit Gelegenheitsjobs verbracht hat, wie die meisten Bewohner von Slab City auch und vor allem für jenes Amerika, das niemand wahrhaben will: Es ist das Amerika, in dem etwa 12 Prozent der Einwohner, nämlich insgesamt mehr als 37 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, darunter 12 Millionen Kinder. In diesem Amerika werden Orte wie Slab City zur letzten Zuflucht der Gescheiterten.

TV-Show, Suppenküche und Schule

Jeden Abend um sechs zieht sich Linda Barnett in ihren Trailer zurück und geht auf Sendung. CB Sidecar, Lokal-Nachrichten und Tauschbörse: John organisiert eine Talentshow, ein alter Fernseher ist zu verkaufen, 45 Dollar. Manchmal quatscht die 53-Jährige eine Stunde ohne zu merken, wie die Zeit vergeht. Doch dann krümmt sie sich wieder vor Schmerz, weil sie sich kaum bewegen kann in ihrer engen Bleibe. "Viele halten uns für Schmarotzer, weil wir hier pachtfrei wohnen", schimpft sie. Dabei seien die meisten ihrer Schicksalsgenossen Kriegsveteranen; andere wolle niemand haben, weil sie behindert sind. Linda selber ist gelernte Krankenschwester und erwerbsunfähig wegen mehrfachen Bandscheibenschadens.

Michael Alesick ist der Feuerwehrchef im Nachbarort Niland. 242 Einsätze hatte er letztes Jahr in Slab City. Er würde die illegale Kommune am liebsten räumen, sauber machen, Schluss damit: "Meine größte Sorge ist, dass da draußen 55 bis 70 Kinder leben. Die haben sich das nicht ausgesucht." Trotzdem hat Alesick vor allem Mitleid, denn er weiß: Auch seinesgleichen muss hart kämpfen, um überleben zu können. Die Suppenküche des Feuerwehrhauses speist mehr als 300 Leute im Monat. Die Schule gibt es nur noch, weil die Einwohner für den hochverschuldeten Bundesstaat Kalifornien einspringen und eine freiwillige Sonderabgabe zahlen.

Hör-Tipp
Journal-Panorama, Mittwoch, 20. Jänner 2010, 18:25 Uhr

Links
Roadside America - Der Salvation Mountain von Leonard Knight
Slab City