Chinas Gesellschaft von unten

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Liao Yiwu gehört zu jenen chinesischen Autoren, die in China schweren Repressalien und sogar Gefängnisstrafen ausgesetzt sind. Für sein aktuelles Buch sprach er mit Menschen der unteren sozialen Schichten und ließ sie über ihr Alltagsleben berichten.

Zu schreiben begann Liao Yiwu Ende der 1970er Jahre. Nach dem Tod von Mao Zedong leitete Chinas neuer Machthaber Deng Xiaoping eine wirtschaftliche Öffnungs- und Reformpolitik ein. Intellektuelle und Künstler engagierten sich zugleich für eine kulturelle Öffnung und hofften auf eine baldige Demokratisierung des Landes. Westliche Literatur wurde rezipiert und eine große Zahl von Literaturzeitschriften gegründet.

Auch wenn die chinesische KP mehrfach Kampagnen gegen geistige Verschmutzung lancierte, waren die 1980er Jahre doch von einer ganz besonderen Aufbruchsstimmung geprägt. Liao Yiwu verfasste Gedichte und wurde bald zu einem bekannten Poeten. Doch mit der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung am Tiananmen-Platz im Juni 1989 zerplatzte der Traum von der neuen Freiheit. Liao Yiwu verlieh seiner Verzweiflung in einem Gedichtband mit dem Titel "Massaker" Ausdruck.

Du bist geboren mit der Seele eines Attentäters,
Aber wenn es Zeit ist für die Tat,
Bist du verloren, tust nichts.
Du hast kein Schwert zu ziehen.

Unterdrückte Geschichte aufzeichnen

Als Liao Yiwu dann einen Film über die Ereignisse von 1989 drehte, wurde das gesamte Team verhaftet. Liao Yiwu verbrachte vier Jahre im Gefängnis. Es war eine für ihn schreckliche Zeit, doch seinen Willen, das Leben in China zu dokumentieren und zu kommentieren, hat sie nicht brechen können. Im Gegenteil. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Geschichten aufzuzeichnen, die das Regime am liebsten unterdrücken würde.

Ein immer wieder kehrendes Thema sind dabei die Verfolgungen während der Mao-Ära von 1949 bis 1976, unter denen auch seine eigene Familie zu leiden hatte, denn sein Vater, ein Lehrer, wurde während der Kulturrevolution als Konterrevolutionär gebrandmarkt.

Viele unterschiedliche Welten

Sutren konnte man nur im Herzen beten. Es war sehr schwierig, wir hatten keine Kutte, keine Kleiderbündel, keine heiligen Bücher mehr, alles wurde verbrannt, selbst unsere Almosenschüsseln haben sie zerschlagen.

Als der Mönch Deng Kuan das erzählte, war er bereits 103 Jahre alt. Liao Yiwu hatte sich von dem alten Kloster, in dem der Mönch lebte, stark angezogen gefühlt und war immer wieder hingegangen, bis er ihn eines Tages persönlich treffen konnte. Viele andere Begegnungen verdankt Liao Yiwu dem Zufall. Wo immer er einer Person begegnet, deren Leben einen interessanten Einblick in eine der vielen unterschiedlichen Welten Chinas zu geben verspricht, sucht er das Gespräch.

Den blinden Liedsänger Queyue lernte Liao Yiwu kennen, als er selbst nach Ende seiner Haftstrafe sich sein Geld mit Flötespielen zu verdienen versuchte.

Nachdem ich auf der Straße von der Polizei zusammengeschlagen worden war, spuckte ich eine Woche lang Blut und lag dort herum. Platt wie ein Reisbrei. Es war unmöglich, mich vor Gericht zu vernehmen. (...) Ich werde das "Lied vom neuen Leben" nie wieder singen, denn Umerziehung durch Arbeit ist schlimmer als Besserung durch Arbeit. Sie kann aus einem einfachen Jugendlichen einen Teufel machen.

Die Sicht von unten

Mehrere hundert Gespräche aus der Perspektive von unten hat Liao Yiwu bereits geführt, 29 davon sind in dem Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" enthalten. Zu den Interviewpartnern gehören unter anderem ein Trauermusiker, ein Klomann, ein alter Rechtsabweichler, eine Falun-Gong-Anhängerin, ein Opfer der Bodenreform, ein alter Rotgardist, ein Gelegenheitsarbeiter, ein Grabräuber und die Frau eines Schlafwandlers.

"Schauen Sie sich diese Fotos an, wir haben wieder und wieder verlangt, dass man die sterblichen Überreste Guofengs in seine alte Heimat nach Sichuan schafft", erzählen die Eltern von Wu Guofeng, der 1989 auf dem Tiananmen ermordet wurde,...

...aber es hieß, das gehe nicht, angeblich eine Anordnung des Zentralkomitees, alle Ermordeten sollten verbrannt werden. Da sagten wir, Wu Guofeng hat auch noch Großeltern und Geschwister, wenn sie uns schon nicht erlauben würden, seine sterblichen Überreste zurückzubringen, damit sie von ihm Abschied nehmen könnten, dann müssten sie uns zumindest erlauben, ein paar Fotos zu machen. Sehen Sie, der Einschuss in der linken Brust war tödlich, das war ein Schuss aus nächster Nähe.

Frei von Angst leben

In China sind die Werke von Liao Yiwu verboten. Chinesische Medien, die von ihm gemachte Interviews veröffentlichten, gerieten unter Druck und ihre Chefredakteure wurden ausgetauscht. Doch Liao Yiwu, der sich auch als Untergrundmusiker betätigt, kann seine Bücher in Hong-Kong oder Taiwan drucken lassen, und dann finden sie ihren Weg immer auch nach China. Oder sie kursieren in Raubkopien.

Das Wahrheitsmonopol, das die KP für sich beansprucht, kann sie trotz aller Repressionsmechanismen längst nicht mehr aufrecht erhalten, eben weil es Menschen vom Schlage eines Liao Yiwu gibt. Er hat sich bereits mit so vielen Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, und seine materiellen Bedürfnisse sind nicht so groß, sagt er. Aber derzeit kann er von seiner Musik und den Einkünften aus seinen Büchern leben. Wichtig ist ihm, frei von Angst zu leben.

Ich versuche, nach und nach die Furcht zu überwinden, die man mir eingepflanzt hat. Indem ich das tue, versuche ich, meine Gesundheit und meine innere Freiheit zu wahren.

Service

Liao Yiwu, "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten", aus dem Chinesischen übersetzt von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder, S. Fischer Verlag

S. Fischer - Fräulein Hallo und der Bauernkaiser