Nachrichten vom Schwarzen Meer

Odessa Transfer

Das Schwarze Meer war die Grenze zwischen Europa und Asien und fast ein halbes Jahrhundert lang die zwischen Ostblock und westlichem Bündnis. Die Essays, die in diesem Buch gesammelt sind, zeigen eher Orte der Düsternis als Orte der Zukunft.

Als "Rote Riviera" galt die bulgarische Schwarzmeerküste einst, da die Riviera am Mittelmeer für viele Europäer unerreichbar war. Mittlerweile ist der Kontinent nicht mehr geteilt, aber eine Region mit internationaler Anziehungskraft ist das Schwarze Meer nicht geworden. 20 Jahre nach dem Mauerfall ist das Binnenmeer mit seinen sieben Anrainerstaaten Bulgarien, Rumänien, Transnistrien, Ukraine, Russland, Türkei, Georgien sowie seit jüngstem Abchasien vielmehr noch immer weitgehend unbekannt - sieht man ab von einzelnen, durchweg durch Kriege und Krisen einschlägige Orte und Regionen wie Odessa, Jalta, die Krim, Bergkarabach. Das will der Band "Odessa Transfer" ändern, herausgegeben von der polnischen Verlegerin Monika Sznajderman und der Suhrkamp-Lektorin für osteuropäische Literatur Katharina Raabe.

"Die Länder dieser Region haben sechs Kriege gesehen nach 1990, es sind größtenteils Länder, die aus der früheren Sowjetunion herausgebrochen sind, sich selbstständig gemacht haben, es sind Länder mit unsicheren Grenzen, es sind aber auch Landschaften von einer unglaublichen Schönheit", meint Raabe. "Was uns daran interessiert, ist, wie wächst auf dem alten, also auf den Hinterlassenschaften des Zaren- und des sowjetischen Reiches etwas Neues. Was geschieht beispielsweise auf der Krim, was geschieht auf den zerstörten Stränden von Abchasien, was ist das überhaupt für eine Region zwischen dem Balkan und dem Kaukasus? Diese Wörter oder Namen stehen ja für uns schon für Krisengebiete. Wie werden sich diese Länder finden, und wie wird das, was dort an Kulturellem geschaffen wird, also Architektur, Literatur, Kunst, wie wird das in unser europäisches Bewusstsein Eingang finden? Das war eigentlich das politische Ziel dieses Buches."

Im Uhrzeigersinn ums Schwarze Meer

Katharina Raabe hat schon, ebenfalls mit Monika Sznajderman, den wunderbaren, sich den Ruinen des untergegangenen sowjetischen Reiches widmenden Band "Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europa" herausgegeben. Wie dieser Vorgänger vereint "Odessa Transfer" Texte und Fotos. Der Krakauer Fotograf Andrzej Kramarz fuhr die Küste des Schwarzen Meeres mit dem Fahrrad im Uhrzeigersinn ab und fing mit seiner Kamera so alltägliche wie skurrile Szenen auf lakonische Weise ein: Schlammbader in Bulgarien, Kühe zwischen Urlaubern am Strand in der Ukraine, Fischerhütten in der Türkei.

Sehr unterschiedliche Herangehensweisen haben die 13 Autoren und Journalisten gewählt: Die Erzählungen, Mythologien, Reportagen, Kulturgeschichten sowie das eine Langgedicht handeln auffallend oft von Grenzen und Gewalt. Seit jeher liegen sich am Schwarzen Meer Europa und Asien gegenüber, früher zudem die Sowjetunion und das Nato-Land Türkei, davor das Osmanische und das Zarenreich, und ganz zu Beginn stießen die Griechen hier auf die sogenannten Barbaren - auf Skythen, Goten, Sarmaten, Hunnen, Proiraner, Kosaken, Krimtartaren und einige andere Völkerschaften, die aus den Weiten des Ostens heranzogen. Auch die Amazonen sollen an den Gestaden gelebt haben, an denen die Griechen die Kolonien Odessopolis, Kerasous und Trapezous gründeten.

Von den Anfängen der Eroberung erzählt die Argonautensage: Mutig befährt Jason das den Griechen damals öde erscheinende Schwarze Meer, raubt mit Hilfe der in ihn verliebten Barbarin und Königstocher Medea das Goldene Vlies und sichert so seiner Familie die Macht.

Mehr politische Texte

Heute scheint das Meer wieder vor allem Ängste zu wecken. Katharina Raabe war ebenso wie Monika Sznajderman erstaunt, wie hart, wie politisch die meisten Texte ausfielen:

"Wir haben gedacht, wenn man über das Meer schreibt, das für die meisten Menschen mit Kindheit, mit Glück, mit Freiheit, mit Sonne verbunden wird, warum man dann einen düsteren Text bekommt über das wolfshafte, tierische Toben des Schwarzen Meeres an der Küste von Constanca bzw. Tomis, wie Mircea Cartarescu schreibt, der diesen Ort dann eben sofort heraufbeschwört als den Exilort schlechthin, nämlich den fernsten Ort des damaligen Römischen Reiches, an den der Dichter, unliebsame Dichter Ovid, verbannt wurde. Und ohne dass sie voneinander gewusst hätten, beschwört auch Attila Bartis, der in Rumänien aufgewachsene ungarische Autor, diese düsteren und mit Unterdrückung verbundenen Seiten des Schwarzen Meeres bzw. des Lebens am Schwarzen Meer herauf. Und das Sonderbare war, dass sich dieser Kältestrom durchgezogen hat (...), und es wird einem klar, dass das ein riesiger Raum von Vertreibungen, von Morden, von Unterdrückung, von Zwangsarbeitslagern usw. gewesen ist, dabei ist es in seiner frühesten Geschichte ja ein Ort von glücklichen und abenteuerlichen und im Grunde so ein bisschen dezentralisierten Kolonien gewesen."

"Dichterisches Imago"

Erstaunlicherweise erlaubt "Odessa Transfer", das eine vergessene Region entdecken möchte, nur in geringem Maß die Entdeckung von Autoren dieser Region. Die Hälfte der Verfasser stammt aus Nichtanrainerstaaten: Polen und Österreich sind mit zwei großen Reisenden vertreten, Andrzej Stasiuk und Karl-Markus Gauß; Griechenland mit dem hierzulande unbekannten Lektor und Autor Takis Theodoropoulos; Großbritannien mit dem Journalisten Neal Ascherson, Verfasser einer fesselnden, staunenswerten Wissenschaftsreportage zum Binnenmeer.

Aus Deutschland kommen gleich drei Autorinnen: Katja Lange-Müller, Sybille Lewitscharoff und Emine Sevgi Özdamar. Der Ungar Attila Bartis ist immerhin als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Rumänien aufgewachsen. Er hat allerdings behauptet, das Schwarze Meer vor dem Verfassen seines großartigen Essays, in dem die Trauer über die Opfer der Zwangsarbeit am Schwarzmeer-Donau-Kanal ständig von Sintflut-Visionen durchbrochen wird, niemals besucht zu haben.

"Das Schwarze Meer ist auch eine dichterische Imago", meint Raabe. "Also Esinenco zum Beispiel, der große rumänische Dichter, der wunderbar über das Schwarze Meer geschrieben haben soll, war auch nie dort. (...) Oftmals kann man ja viel besser über etwas schreiben, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern nur sozusagen mit seinen spekulativen Sensorien erahnt hat."

Das mag sein, aber ein so weit gespannter Rahmen überfordert selbst einen solch opulenten Band wie "Odessa Transfer" - und ist vielleicht auch der Grund, warum gleich mehrere Autoren des Öfteren auf den Mythos und die Antike zurückgreifen. Oder sollte die wiederholte Bezugnahme auf Jason und Ovid ein Anzeichen dafür sein, dass die Gegend um das Schwarze Meer früher viel eher als heute eine gemeinsame Region war?

Topos der Freiheit

"Odessa Transfer" nähert sich vielstimmig und voller Sympathie einem Meer, das es offenbar niemals leicht gehabt hat. Anfangs hielten es die Griechen für öde und furchterregend. In Russland avancierte es dank Puschkin zwar zum literarischen Topos der Freiheit, schreibt die Journalistin Katja Petrowskaja, aber dieser Topos war so mächtig, dass das kleine Mädchen Marina Zwetajewa einst an der Küste stand und das reale Wasser gar nicht wahrnahm. Es sah vielmehr das wogende "freie Element" aus Puschkins Gedicht und wurde zur Dichterin.

Nicht anders, jedoch ganz ohne literarische Motivation verhalten sich Teile von Bulgarien. Dort, so wird erzählt, wenden sich viele Häuser an der Küste vom Meer ab. Fenster und Türen liegen zur Landseite.

Service

Katharina Raabe und Monika Sznajderman (Hg.), "Odessa Transfer. Nachrichten vom Schwarzen Meer", mit einem Fotoessay von Andrzej Kramarz, Suhrkamp Verlag

Suhrkamp - Odessa Transfer