Oskar Kokoschka und Alfred Kubin als Literaten

Wenn Dichtermaler malerdichten

Beide waren Kinder des 19. Jahrhunderts, die mit ihren Bildern vehement ins 20. drängten: Als "Oberwildling" der eine, als Zeichner bizarrer Visionen der andere: Oskar Kokoschka und Alfred Kubin. Beide haben sich auch literarisch betätigt.

Im Frühling 1952, als er gerade 75 Jahre alt geworden war, schrieb Alfred Kubin an den Schluss seiner autobiografischen Notizen mit zarter Feder den Satz: "Im Alter bleibe man freundlich und schweigsam." - Und blieb's, hinfort.

Er hätte wohl lebenslang freundlich geschwiegen - wenn man ihn nur gelassen hätte; man ließ ihn, das heißt: es ließ ihn nicht, weder am Schreib- noch am Zeichentisch, an dem er sein weltberühmtes mal- und zeichenkünstlerisches Werk, zumeist in trüben Morgenstunden nach traumschweren Nächten, schuf.

Sie liegen heute noch da, im "kleinsten Atelier der Welt", seinem Arbeitszimmer in dem ländlichen Ansitz Zwickledt bei Wernstein am Inn, schön geordnet; ganz, wie er sie, der leidenschaftliche Beobachter und Sammler alles Natürlichen und Kreatürlichen, sich zum Gebrauch zurechtgemacht hatte: Die Gänse-, Hühner-, Enten-, ja, sogar auch Adlerfedern - nebst gut hundert aus Stahl und, natürlich, den zugehörigen Federstielen, Stiften, und dazu Papier und Tusche. Das allein seien seine Werkzeuge, sagte Kubin, um in künstlerischer Arbeit ("Man trägt immer seine Haut zu Markte!") die Wahrheit darzustellen - und das allein wollte er.

Bildmappen mit Texten

Mit solchem (und ähnlichem) Werkzeug kann man selbstverständlich auch schreiben, nämlich: nach literarischem Ausdruck des Wahren suchen, und gerade bei Alfred Kubin, dem Einzel- und Doppelgänger, liefen zeichnerisches (zeitweise auch malerisches) und literarisches Arbeiten sehr oft nebeneinander her - manchmal sogar formal, etwa in seinen "Bilderbüchern", wo er Bildmappen schuf, zu denen er dann Texte verfasste ("Heimliche Welt") oder, zwei Jahre später, der "Orbis Pictus", in welcher "Bilderwelt" er ausdrücklich "Gestalten und Bilder" festhalten wollte, die damals, in seinem 50. Lebensjahr, "in (seiner) Seele spukhafte Existenz getrieben, aber nie die Reife "sogenannter abgeschlossener Zeichnungen" erreicht hätten.

Seine eigenen Geschichten, so bemerkte Kubin zu seinem Büchlein "Guckkasten", seien freilich von geringem Rang, nicht zu vergleichen mit den großartigen Texten der Weltliteratur, zu denen er ebenbürtige Bilder schuf. Deshalb könne jeder, dem die Bild-Geschichten des Autors nicht gefielen, ohne weiteres die Zeichnungen neu deuten und sich solcherart sein eigenes Büchlein erfinden.

Literarischer Befreiungsschlag

Nein, er sei weder Poet noch Philosoph, wurde Alfred Kubin nicht müde zu versichern - unterhielt aber, bei aller Distanz zu seinen eigenen Schriften, doch einen so engen Kontakt zu ihnen, dass es zuweilen scheint - und Kubin spricht selbst da und dort von solchen künstlerischen Situationen -, als dränge sich Literarisches ungebärdig durch die Zeichenebene in den Vordergrund - und in einem, und zwar in dem mit Abstand erheblichsten Fall Kubin'scher Literatur, hat er einen solchen kreativen Verzweiflungsakt (nicht ohne Koketterie übrigens!) ausführlich beschrieben: Wie er im Jahr 1907 mit seinem Freund Fritz von Herzmanovsky-Orlando (auch so ein Doppelter!) von einer sommerlichen Italienfahrt voll der Eindrücke heimgekommen (in's damals frisch erworbene "Schlößchen" Zwickledt) und am Zeichentisch verzweifelt sei, weil sich weder Pinsel noch Feder, weder Lavage noch Schraffe noch Strich sich ihm fügen wollten - und wie er aus Verzweiflung, aus dieser "drängenden Leere" heraus innerhalb von drei Monaten den literarischen Befreiungsschlag führte, indem er seinen (ersten und einzigen) Roman niederschrieb, der dann den Titel "Die andere Seite" bekam und von der Dämonie der einfachen Dinge, der Traumwelt des Alltäglichen, den Bizarrerien hinter dem Spiegel der vermeintlichen Wirklichkeit berichtet. Kubin beschreibt sich darin selbst als zeichnerischen Erkunder dieser ins Groteske gekippten Realität - und ließ der ersten Ausgabe, 1909, das bis eben dahin gediehene Fragment einer Autobiografie beifügen. Er wollte, dass "Die Andere Seite" nicht nur genossen, sondern auch verstanden werde.

Literarisch-grafisches Zwitterprodukt

In späteren und späten Jahren berief sich Alfred Kubin, der anno Expressionismus in München zu den Mitbegründern des "Blauen Reiters" gehört hatte, sowohl in malerischen als auch in literarischen Dingen gern und oft auf einen neun Jahre jüngeren Kollegen: auf Oskar Kokoschka. Zum einen, weil sich der - wenn auch nicht still, wie Kubin, sondern mit polemischer Attitüde - gegen die "Abstrakten" stellte, zum zweiten, weil auch für Kokoschka die Suche nach der Wahrheit in Leben und Kunst unabdingbar war, und zum dritten, weil beide Feuerköpfe zu diesem Zweck auch zur Schreibfeder griffen. (Zum vierten, müsste man eigentlich hinzufügen, weil das Erste, das Zweite und das Dritte selbstverständlich bei beiden in Wahrheit eins waren.)

Alfred Kubin trug seine an der Welt erlittenen Verwundungen innen, Kokoschka außen. "O.K.", der "Oberwildling" (dieses bis heute an ihm haftende, eigentlich gar nicht böse gemeinte Etikett hatte ihm anlässlich seiner ersten Ausstellung, 1908, die expressive Tonplastik eines schreienden Kopfes eingetragen) gab seine Premiere auf dem Kunstmarkt mit einem literarisch-grafischen Zwitterprodukt, der farblithographischen Mappe "Die Träumenden Knaben", textiert in frei-lyrischen Versen. Dieses Werk stelle, so befand noch der alte Kokoschka - der sein literarisches Oeuvre insgesamt seinem Weltruhm als Maler durchaus zur Seite gestellt haben wollte - erschöpfend seinen damaligen Bewusstseinszustand dar und sei somit ohne Weiteres repräsentativ für seinen Eintritt in das künstlerische Leben.

Ein Kinderbuch an der künstlerischen Wiege

Sein bis heute - zumindest als Titel - geläufiges Kurzdrama "Mörder, Hoffnung der Frauen" ergab, mit starker bildnerisch-visionärer Unterstützung des Meisters, den gewünschten Gesellschaftsskandal; seine zum Opernlibretto gekürzte moderne Fassung des Orpheus-Stoffes nannte der Komponist, der junge Ernst Krenek, zwar respektlos ein "expressionistisches Gestammel" - aber fasziniert hat ihn diese aus dem tiefenpsychologischen Griechentum neu geschöpfte Oskar/Alma(Mahler)-Liebesverstrickung ja doch.

Dass auch an Kokoschkas künstlerischer Wiege ein "Bilderbuch" stand, ist kein Zufall; und dass es ein "Orbis Pictus" genanntes war, schon gar nicht. Alfred Kubin wusste, als er seine Traumgeschichte festhielt, von des Kollegen Faszinosum aus Kindertagen, dem "Orbis Sensualium Pictus", dem ersten Welt-Kinderbuch der Geschichte, verfasst von dem großen tschechischen Religionsreformator und Humanisten Jan Komenský, der sich, der geistigen Sitte der Zeit gemäß, Comenius nannte. Und Oskar Kokoschka porträtierte nicht nur diesen Comenius auf einem seiner berühmtesten Bilder, sondern er versuchte auch fast dreißig Jahre lang, diesem seinem literarischen "Lebensmenschen" mit einem dramatischen Bilderbogen beizukommen, den er erst als Siebzigjähriger abschloss.

Droge für intellektuelle Wachheit

Auch durch Kubins malerisches Werk geistert allenthalben lebensbestimmende Literatur, wenngleich es da viel diffiziler zugeht als bei Kokoschka: Alfred Kubin war vermutlich der belesenste aller bildnerischen Künstler neuerer Zeit, wusste etwa Schopenhauers "Paralipomena" ebenso souverän herbei- und in sein Werk hineinzuzitieren wie seine tiefinnerliche Abneigung gegen Strindberg, den zu illustrieren er daher literarische Hygienemaßnahmen brauchte.

Laut Kokoschka sei es im Grunde egal, ob ein Künstler male oder schreibe, solang er wisse, dass und wie man hinzuschauen hat.

Für Alfred Kubin, der über keinerlei Rüstzeug der Seele verfügte, war die Schreiberei bei Bedarf die Befreiung für Zeichenstift und Feder aus drückender Belagerung. Und - hier trifft sich's doch noch mit Kokoschka - oft eine letzte Anstrengung, "die Augen länger offen zu halten als andere".

Eine Art Droge für intellektuelle Wachheit war sie für beide, die Schriftstellerei nebenher, aber auch quer durch, durchs Werk.