Der triste DDR-Alltag
Die Zeitwaage
Diejenigen, die die DDR nicht mehr erlebt haben, finden in Lutz Seilers Geschichten ein hochauthentisches Prisma des DDR-Alltags. Lutz Seilers Sprache und seine sparsamen, aber immer präsenten Reflexionen transzendieren perfekt diese Tristesse.
8. April 2017, 21:58
Dass Lyriker auch gute Essayisten sein können, ist so überraschend nicht. Auch Lutz Seiler hat es mit seinem Aufsatzband "Sonntags dachte ich an Gott" bewiesen. Aber der Weg von der Lyrik zum Erzählen ist weiter, und so manche Lyrikerin und mancher Lyriker hat in der Prosa bestenfalls Mittelmäßiges zustande gebracht. Lutz Seiler wurde für seine Erzählung "Turksib" 2007 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Zwei Jahre danach ist das Buch erschienen, das neben "Turksib" noch zwölf andere gewichtige Erzählungen enthält.
Klangliche Assoziationen
Die erste Erzählung führt, untypisch für Lutz Seiler, an die amerikanische Westküste. Allerdings in ein Restaurant mit thüringischen Spezialitäten. Teresa und der, der die Geschichte erzählt, haben sich mit dieser Reise einen jahrelangen Traum erfüllt. Aber ihre Traumzeit ist längst aus. Für ihre Zukunft braucht es da nur mehr einen einzigen Satz über die Tochter: "Sie sprachen über Luzie - die Schule, der Klavierunterricht, ihr Zimmer, nichts sollte sich verändern für sie."
Die längere zweite Erzählung knüpft an die erste an und zeigt besonders deutlich die klanglichen Assoziationen, die in Seilers Prosa immer wieder zum Tragen kommen.
"Turksib", die Erzählung einer Fahrt mit der Turkestan-Sibirischen Eisenbahn, ist ein subtiler literarischer Reflex der Begegnung mit dem Fremden. Der sibirische Heizer, der Heines "Lore-Ley" deklamiert und den Erzähler brüderlich umarmt, die pflichtschuldige Einfühlsamkeit in fremde Sitten und Gebräuche und die Aggression, die diese Umarmung erzeugt, und dazu das zeitdehnende Erzählen, das einen einzigen Augenblick unendlich lange werden lässt – Lutz Seiler ist dafür zurecht gelobt worden.
Hausmeister-Terror und Ranzenkontrolle
Die zehnteilige Erzählung "Der Kaputzenkuss" ist eine Exkursion in die fremde Welt der DDR-Schule mit ihrem Hausmeister-Terror und der sogenannten "Ranzenkontrolle", bei der "Schmutz und Schund" ausfindig gemacht werden sollte. Und der reflektierende Erzähler, der Lutz Seiler nun einmal ist. hält fest.
Dieser Regelkreis von Kontrolle, Strafe und Verbrennung, der das Funktionieren unserer Schule im Inneren aufrechterhielt, benötigte Schund & Schmutz, den Stoff des Verbotenen, und von niemand anderem als uns konnte Schund & Schmutz regelmäßig geliefert werden...
Die erste Liebe hat es schwer unter diesen Umständen.
Das Schach-Spiel
Der triste DDR-Alltag, unter dem die Jugend erstickt, ist in allen Erzählungen dieses Bandes präsent. "Die Schuldamsel" zeigt einen Jungen, der eine verletzte Amsel nach Hause trägt und dann verhungern lässt. Die Deformation des Jungen und das kurze Aufleuchten der Nähe zu dem Tier - aus diesem Gegensatz lebt der Text.
Der zentrale Kern des Bandes ist die "Schachtrilogie". Ihr erster Teil, "Das letzte Mal", beginnt mit dem Satz:
Es war am 20. November 1976, ich war dreizehn Jahre alt und hatte meinen Vater das erste Mal im Schach besiegt. Es war das letzte Mal, dass wir miteinander spielten.
Aus diesen Sätzen wird entfaltet, was es auf sich hatte mit dem Schachspiel: "Schach war schließlich das einzige Spiel, das mein Vater mit mir spielte", heißt es da, und: "Es bedeutete eine Einschließung, eine Nähe, die nur ich und meinen Vater enthielt". Und dazu erfährt man, was ein eigener Garten und Bungalow in der DDR des Jahres 1976 bedeutete.
Schachmeisterin Gavroche
Der zweite Teil der Trilogie, "Gavroche" überschrieben, beginnt mit den Studienjahren des Erzählers in Halle - jener Stadt, in der auch Seiler studiert hat. Das Mädchen Gavroche, so ihr Spitzname, wird Schachmeisterin, und der Erzähler ihr Geliebter. Die Turniere und das Hintanstellen des Privatlebens gegenüber dem Schachsport, das Auf und Ab der Beziehung bis zu ihrem Ende und dann das Telefonat Jahre später mit Gavroches Mann, der mitteilt, sie sei bei einem Unfall umgekommen - all das wird bei Seiler zu einer Erzählung, die in ihren Details ebenso beeindruckt wie in ihren Aussparungen.
"Der gute Sohn" erzählt als Schlussteil der Trilogie eine andere Vater-Geschichte: die eines Jungen, der seinen Vater nach dem Krieg zum ersten Mal sieht.
Lutz Seilers Erzählband ist gerade rechtzeitig zum 20. Jahrestag des Endes der DDR erschienen. Gegen die Verharmlosung dieses Regimes zeigt es in vielen Nuancen seine Auswirkung auf die Gesellschaft. Und die, die die DDR nicht mehr erlebt haben, finden hier ein hochauthentisches Prisma des DDR-Alltags, das sprachlich und erzähltechnisch überzeugt.
Schmerzhafte Geschichten
Die letzte, titelgebende Erzählung "Die Zeitwaage" spielt im Berlin der Übergangszeit, als die Wohnung der sogenannten "Ungarnflüchtlinge" bereits leer stehen und sich die DDR-Verwaltung langsam auflöst. Der Erzähler arbeitet als Kellner, und jeden Morgen kommt ein Arbeiter zum Frühstück. Es entsteht eine sehr wortkarge Nähe, die so beschrieben wird:
Jede seiner Gesten schien augenblicklich zum Verständnis meines eigenen Daseins beizutragen, der verlorengegangenen Ganzheit, wie es mir atemlos durch den Kopf schoss, und es gab Momente, in denen ich glaubte, sie würden nur aus diesem Grund ausgeführt, und dann wieder Momente, in denen ich vor Vergnügen in ein kleines, unhörbares Gelächter ausbrach hinter dem Tresen, ein Gekicher in die Tiefe der Küche, bevor ich, frisch gesegnet, an den Kühlschrank trat: Satz für Satz entnahm ich seiner Gestalt und dem schimmernden Treibgut meiner Erregung. Verheißung war das Wort dieser Zeit.
Am Ende steht der Arbeiter draußen auf der Straße auf einer Hebebühne und gerät in die Hochspannungsleitung. Der Erzähler kann nur zusehen. Man darf ihn mit Lutz Seiler identifizieren, denn er hat diesen Vorfall schon am Ende des Aufsatzes "Sonntags dachte ich an Gott" beschrieben.
Es sind schmerzhafte Geschichten, die Lutz Seiler erzählt, und selten gehen sie gut aus. Aber auch dann hinterlassen sie ihre Narben. Doch Lutz Seilers Sprache und seine sparsamen, aber immer präsenten Reflexionen transzendieren diese Tristesse.
Service
Lutz Seiler, "Die Zeitwaage. Erzählungen", Suhrkamp Verlag
Suhrkamp