Frauenleben in Afghanistan

Stein der Geduld

"Stein der Geduld" ist die Rede einer geknechteten Frau an ihren bewusstlosen Mann, der ihr notgedrungen geduldig zuhören muss. Man könnte aber auch sagen, es ist ihre Rede an die lesende Welt. Papier ist geduldig. Fast so wie ein Stein.

"Wir Afghanen sind ein Volk der Schweiger. Wir hüten und verwahren unsere Verletztheiten sorgsam. Sei es aus Stolz, sei es aus Schamgefühl. Und diese ganzen verstockten Gefühle entladen sich immer wieder in Gewalt. Das ist auch ganz klar, wenn es bei einem Volk, einem Stamm, einer Familie keine Trauer gibt, bleibt nur noch die Rache. Bei uns ist es nur Sache der Frauen zu trauern." So erklärt sich Atiq Rahimi nicht nur den nun 30 Jahre dauernden Krieg im Land, sondern auch den Frauenhass vieler Männer.

"Stein der Geduld", der aktuelle Roman des 46-Jährigen, handelt von einer namenlosen Frau irgendwo in einer vom Bürgerkrieg verheerten afghanischen Stadt, die über ihren schwerverletzten, bewusstlosen Mann wacht.

Das Herz ausschütten

Wie eigenartig! Noch nie habe ich mich dir so nahe gefühlt. Zehn Jahre sind wir jetzt verheiratet. Zehn Jahre! Und erst seit drei Wochen teile ich endlich etwas mit dir. Ich kann dich berühren. Ich kann mit dir über alles reden, ohne unterbrochen zu werden, ohne beschimpft zu werden.

Er ist ihr Stein der Geduld. Obwohl sie wahrscheinlich hofft, dass ihr Mann sie nicht hört, beginnt sie ihm erstmals ihr Herz auszuschütten. Weinend erzählt sie von ihrer Einsamkeit, sehnsüchtig von ihrem Verlangen nach Liebe, empört erinnert sie ihn daran, wie er sie schlug und behandelte wie ein minderwertiges Ding. Wütend erzählt sie von ihrem Vater, der sie auch verachtete. Und nachts, wenn die Maschinengewehre feuern, sagt sie ihm ihre Meinung über den Krieg, an dem er so eifrig mittat:

Es stimmt genau, das Wort der Weisen: Traue keinem, der das Vergnügen der Waffen kennt. Die Waffen bedeuten euch alles. (...) Ihr Männer! Sobald ihr eine Waffe in der Hand habt, vergesst ihr eure Frauen.

Erniedrigung und Rechtlosigkeit

Zwar führen die Männer Krieg, um die Ehre der Frauen zu verteidigen, so werden sie in Rahimis Buch jedenfalls zitiert; im tagtäglichen Miteinander prägt allerdings Erniedrigung, Rechtlosigkeit, Gewalt gegen Frauen das Bild. Neuerdings auch wieder politisch gewollt. So hat Präsident Hamid Karzai rechtzeitig zu den letzten Wahlen ein Gesetz verabschieden lassen, das den schiitischen Männern Afghanistans die sexuelle Verfügbarkeit ihrer Ehefrauen garantieren soll. Vergewaltigung ist in Afghanistan nun von höchster Stelle legalisiert worden.

Rahimi interpretiert das als Folge der Angst vor Frauen. Deren Ursprung sieht er in den zoroastrischen Wurzeln des afghanischen Islams – eines Islams mit buddhistischen Einflüssen, in dem eine erotische, weibliche Gottheit angebetet wurde. Das war zu viel für die Männer, meint Rahimi. Genauso wie die bis zum heutigen Tag existenten matriarchalen Strukturen in den Großfamilien zu heftigen Gegenreaktionen führen.

"So sehr die afghanischen Frauen nach außen hin auch unterdrückt sind, so sehr haben sie in ihrem Inneren doch eine fast unheimliche Stärke entwickelt", sagt Rahimi. "Das ist eine Charakteristik der Frauen in dieser Region. Innerhalb der Clans, der Großfamilien haben sie das Sagen. Großmütter sind das Macht-Zentrum der Familie. Der Großvater hat nichts zu melden - im Haus."

Eine Geisel des 21. Jahrhunderts

Seinen ersten Roman "Erde und Asche", bei dessen Verfilmung er auch Regie führte, hat Atiq Rahimi nach eigenem Bekunden geschrieben, um zu erforschen, welche Spuren der Krieg hinterlässt. Den zweiten "Der Krieg und die Liebe", um die unbeugsame Stärke der afghanischen Frau zu verstehen. "Stein der Geduld", um zu unterstreichen, dass die Versklavung von Frauen eine Geisel des 21. Jahrhunderts ist.

Dabei wären Frauen die Lösung für viele Probleme, wie Rahimis Roman andeutet und das aktuelle Themenheft des "New York Times Magazines" ganz konkret darlegt. Die Lösung für Probleme wie Armut, Kindersterblichkeit, Krieg und Terrorismus. Ein Land, in dem die Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannt sind, entwickelt die Testosteron-geladene Atmosphäre eines Militärcamps. Zum Beispiel Afghanistan.

Schriftsteller sind "amoralische Wesen"

Obwohl die Romane Rahimis dergestalt realitätsgesättigt sind und um aktuelle weltgesellschaftspolitische Probleme kreisen, spricht der 46-Jährige davon, keinerlei moralische Verpflichtungen beim Schreiben zu empfinden:

"Nein, im Gegenteil, der Schriftsteller hat eine Verpflichtung zur Immoral. Denn er ist ein amoralisches Wesen. Es ist schon amoralisch, überhaupt zu schreiben. Sich zurückzuziehen von der Welt, einsam und für sich zu arbeiten. Egozentrisch sein, all das ist grundsätzlich unmoralisch. Moral, das ist Gesellschaft. Geschichte lehrt uns, was moralisch ist."

"Ich glaube nicht an die sogenannten engagierten Schriftsteller", so Rahimi weiter. "Im Engagement gibt es immer das Problem, dass man gewählt haben muss, sich entschieden haben muss. Der Schriftsteller hat keine Wahl. Er ist verstrickt mit etwas und bewegt sich gegen die Strömung und nie mit ihr."

Keine demokratische Aufbruchsstimmung mehr

Afghanistan ist eine islamische Republik und ein Sieben-Völker-Staat. Ein Land an der Nahtstelle großer Menschheitskulturen. Am Hindukusch kollidierten bereits seit vorchristlichen Zeiten die indische, die eurasische, die chinesische und die persische Hochkultur. Russische Expansionisten und das britische Empire überzogen Afghanistan mit Krieg. Es ist ein Land, das der bevölkerungsreichste Stamm, die Paschtunen, folgerichtig "Zwischenland" nennt.

Und Afghanistan kommt auch weiterhin nicht zur Ruhe. Anschläge, Einschüchterungen, Fälschungen bei den letzten Wahlen im August haben gezeigt, dass von der demokratischen Aufbruchsstimmung nicht mehr viel zu spüren ist. Seit dem Sturz der Taliban vor bald acht Jahren haben die Afghanen nicht mehr so düster in die Zukunft geblickt.

Atiq Rahimi, der jedes Jahr fünf, sechs Mal nach Hause fährt, glaubt, dass der Grund die fehlende Identifikation mit dem Staat Afghanistan ist – jeder fühle sich nur als Teil seines Clans, seiner Großfamilie - und gleichzeitig auch das Fehlen einer kulturellen Identität:

"Der Mensch ist ein seltsames Tier. Wenn er einmal seinen Bauch gefüllt hat, kann er anschließend wild und grausam werden. Außer er hat Kultur. Humanitäre Hilfe und kulturelle Hilfe – meines Erachtens muss man da immer zweigleisig fahren. Ich halte kulturelle Entwicklungshilfe für wesentlich."

Einblick in bedrückende Verhältnisse

Rahimi betreibt in Kabul seit etlichen Jahren einen Literaturclub, seiner Erkenntnis folgend, dass unausgesprochenes Leid und Krieg eng zusammenhängen. Geld verdient er als Drehbuchautor für die SitCom-Serie eines privaten französischen Fernsehsenders, sowie als Filmregisseur. Und seit der Goncourt-Preisverleihung auch mit seinen Romanen.

Der "Stein der Geduld", ursprünglich ein Gegenstand aus der persischen Mythologie, in Rahimis Roman Synonym für den nach einem Nackenschuss ins Wachkoma gefallenen Ehemann der Protagonistin, erwacht am Ende zu neuem Leben. Zum Entsetzen seiner Frau ist er allerdings ganz der Alte, weit davon entfernt, Dankbarkeit für seine Lebensretterin zu empfinden.

"Stein der Geduld" ist ein schmaler Roman, der Einblick gibt in unglaublich bedrückende Verhältnisse; ein stilistisch gelungenes Kammerspiel, das mit sparsamen, ganz der kargen Umgebung angemessenen Mitteln, eine Geschichte von großer Symbolkraft erzählt; und nicht zuletzt ein beeindruckend klar formuliertes Plädoyer für die Unterstützung der Frauen in Afghanistan.

Service

Atiq Rahimi, "Stein der Geduld", aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli, Claassen Verlag

Claassen Verlag - Atiq Rahimi