Charles Ritterband wundert sich über Karl Lueger

Ein Schweizer in Wien

An der Beurteilung Karl Luegers scheiden sich die Geister: Der Modernisierungsschub in Wien um 1900 wird ihm ebenso zugeschrieben wie die fatale Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. Charles Ritterband, Korrespondent der NZZ, betrachtet sein Denkmal.

"Zum ersten Mal schloss ich Bekanntschaft mit dem Herrn Lueger, als ich im Cafe Prückel meine Melange trank. Da schaute er mir über die Schulter, und zwar von seinem Denkmal herunter."

Und so beginnt Charles Ritterband, Autor, Journalist und politischer Kommentator, darüber nachzudenken, wieso der am 10. März 1910 verstorbene Bürgermeister Karl Lueger in der Wiener Innenstadt gleich zweimal an prominenten Orten vertreten ist. Das ehemals imperiale Wien wartete bis vor kurzem zur Orientierung im Stadtplan mit einem Dr.-Karl-Lueger-Ring und einem Dr.-Karl-Lueger-Platz auf. Beide Ortsbezeichnungen erinnern an den bürgermeisterlichen Widersacher von Kaiser Franz Joseph I.

Dem Kaiser war Lueger ob dessen antisemitischer Agitationsreden ein Dorn im Auge. Drei Mal versuchte Franz Joseph die Einsetzung Luegers zum Bürgermeister zu verhindern. Schließlich reisten einige Lueger-Aficionados nach Rom und intervenierten beim Papst persönlich für die Inthronisierung des Wiener Stadtoberhauptes. - Ein Romzug mit geänderten Vorzeichen.

Den Antisemitismus salonfähig gemacht

"Lueger ist aus meiner Sicht eine ziemlich negative Figur und dass der jetzt gleich mit zwei prominenten Bezeichnungen geehrt wird, das finde ich schon anstößig", räsoniert Charles Ritterband, der als Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" dem Goldenen Wiener Herz beim Schlagen zuhört. Den Wiener Antisemitismus hatte Lueger salonfähig gemacht, wodurch er zum Vorbild Adolf Hitlers wurde, der Lueger wiederum in seinem politischen Pamphlet "Mein Kampf" hymnisch huldigte.

"Lueger-Ring und Lueger-Platz sind offenbar sehr schwer umzubenennen, da habe ich ein ganz skurriles und für Wien typisches Beispiel einer Umbenennung gefunden, nämlich den Schlesinger-Platz im achten Bezirk", schmunzelt Ritterband, der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich, Harvard, Paris und St. Gallen studiert hat. Josef Schlesinger war ein begeisterter Anhänger von Karl Lueger und stand diesem an Antisemitismus um nichts nach.

Aus Schlesingerplatz wurde Schlesingerplatz

Nach vielen Jahren der Diskussion wurde der Josefstädter Schlesingerplatz umbenannt. "Aber raten Sie mal in was der Schlesingerplatz umbenannt wurde? - Er wurde in Schlesingerplatz umbenannt!" Diese Pointe lässt sich der NZZ Korrespondent auf der Zunge zergehen. Diesmal aber bezog sich der Name nicht mehr auf den antisemitischen Josef Schlesinger, sondern auf die Jüdin Therese Schlesinger, eine Vorkämpferin für die Gleichberechtigung der Frauen.

"Da macht sich schon ein Unbehagen breit und es zeigt diesen Zwiespalt in Wien auf", resümiert Ritterband, der für die "Neue Zürcher Zeitung" schon in aller Welt - von Buenos Aires bis Tel Aviv – stationiert war. Wien empfindet der Autor als eine angenehme Stadt zum Leben und eigentlich möchte er in keiner anderen Stadt leben.

Und doch bleibt der Gedanke an negative, unangenehme Dinge immer im Hintergrund. "Nicht nur im Cafe Prückel, auch in diesem sehr traditionsreichen Café Frauenhuber, wo ja schon Beethoven und Mozart aufgespielt haben und das vom Leibkoch Maria Theresias gegründet wurde, dort hängt an prominenter Stelle eine übrigens ganz tolle, wunderbar kolorierte Fotografie von Karl Lueger, auch dort ist er präsent."

Service

John W. Boyer, "Karl Lueger - Christlich-Soziale Politik als Beruf", aus dem Englischen übersetzt von Otmar Binder, Böhlau-Verlag

Anna Ehrlich, "Karl Lueger - Die zwei Gesichter der Macht", Amalthea-Verlag

Charles E. Ritterband: "Dem Österreichischen auf der Spur", Böhlau-Verlag