Eine große Biografie?
Beethoven
Der Bärenreiter-Verlag hat das Beethoven-Buch des US-amerikanischen Harvard-Professors Lewis Lockwood als "Große Beethoven-Biografie" angekündigt. Das Buch ist nicht gerade das, was man üblicherweise von einer Biografie erwartet.
8. April 2017, 21:58
Lockwood beginnt sein Beethoven-Buch mit einem Prolog, in dem er drei Beethoven-Briefe aus drei verschiedenen Lebensphasen wiedergibt und sie kommentiert. Das ist ein riskantes Unterfangen, allzu leicht könnte sich eine solche Auswahl als subjektiv und problematisch in Hinsicht auf Rückschlüsse und Verallgemeinerungen erweisen. Doch das tut es nicht, und Lockwood schafft es tatsächlich, auf wenigen Seiten die Paradoxa zwischen Beethovens künstlerischem Perfektionsstreben und seiner unordentlichen bis chaotischen Lebensführung zu beleuchten und dazu noch Wesentliches vom Selbstverständnis Beethovens zu ergründen.
Ausgestattet mit der Erfahrung dieses verheißungsvollen Beginns geht es in den Hauptteil. Lockwood widmet einen ausführlichen ersten Teil der Bonner Zeit Beethovens und schließt dann sein weiteres Leben, nach der üblichen Abgrenzung in drei Entwicklungsperioden gegliedert, an. Die Beschreibung der Jugend in seiner Heimatstadt ist detailreich und genau, besonders interessant sind die Untersuchungen, mit welcher Musik welcher Komponisten Beethoven in seinen ersten zwei Jahrzehnten zu tun hatte und welche Wirkung sie auf ihn hinterließ.
Neuere Forschungsergebnisse fehlen
Das Erscheinungsjahr des Buches in den USA liegt schon einige Jahre zurück, und so sind einige neuere Forschungsergebnisse nicht berücksichtigt, beispielsweise die Identität der "unsterblichen Geliebten" betreffend. Allerdings fehlen auch Erkenntnisse, die schon älter sind, wie etwa das über die "Eroica" im Kontext des Prometheus-Mythos. Oder, bei derselben Symphonie, die Theorie von der programmatischen Verknüpfung der ersten drei Sätze mit einem Ausschnitt aus Homers "Ilias".
Über eine Stelle des Buches bin ich tatsächlich gestolpert. Der Wiener Musikwissenschaftler Otto Biba hat zu Recht das Bild Schuberts als verarmten Unbeachteten revidiert, aber Lockwood versteigt sich, Biba als Quelle angebend, hier zu einer doch ziemlich extremen Darstellung über Beethovens Verhältnis zu Schubert:
Einzig Schubert mag in seinem späteren Leben ein potenzieller Rivale gewesen sein... Zu Schuberts großer Reifezeit - den 1820er Jahren - lebte Beethoven in seiner eigenen inneren Welt, während Schubert in den Wiener Musikzirkeln zum Lieblingskomponist avancierte.
Kleinigkeiten, die beim Lektorieren übersehen wurden, stören vielleicht penible Leser, etwa das falsche Zitieren des Spruches "Per aspera ad astra".
Keine verherrlichenden Plattitüden
Je weiter das Buch im Leben und Werk Beethovens fortschreitet, umso mehr widmet sich der Autor dem Werk und hält die Biografie nur mehr in ephemerer Dimension. Das gilt besonders für Beethovens zehn letzte Jahre, deren Ablauf auf wenigen Seiten zusammengefasst wird. Die Werke jener Zeit, insbesondere die späten Streichquartette, erfahren hingegen ausführliche und hintergründige Besprechung.
Den stärksten Eindruck macht für mich aus, das Lockwood einerseits die verherrlichenden Plattitüden aus dem früheren Beethoven-Schrifttum vermeidet. Andrerseits verfällt er aber nicht in die heute häufig anzutreffende Trivialisierung, die sich als Entmystifizierung tarnt. Daher sind immer wieder Passagen anzutreffen, die auf die künstlerischen Ziele und Ideale des Menschen Beethoven eingehen und Lockwood scheut sich nicht, die künstlerische und die ethische Dimension zu verbinden, wie etwa im Zusammenhang mit den Schlüssen der drei späten Klaviersonaten.
Es war Anfang Februar 1820, als Beethoven ein Kant-Zitat in ein Konversationsheft eintrug: "Das moralische Gesetz in uns, und der gestirnte Himmel über uns. Kant!" Es ist eben diese Vorstellung des sterblichen, verwundbaren Menschen, der allen Widrigkeiten zum Trotz für seine Moral kämpft, um die Stärke zu erhalten, die auch als Künstler nötig ist, um nach dem Göttlichen zu streben - und es ist diese Verbindung, die am Schluss von Opus 111 und auch in einigen anderen Momenten von Beethovens Spätwerken fühlbar wird. Es sind Augenblicke, die nur wenige Komponisten vor oder nach ihm je erreichten.
Service
Lewis Lockwood, "Beethoven. Seine Musik. Sein Leben" Bärenreiter Verlag
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