Momentaufnahmen der Bewohner Roms

Römische Erzählungen

Alberto Moravia breitet in den "Römischen Erzählungen", die jetzt neu erschienen sind, ein Stadtpanorama der anderen Art aus. Nicht das Kolosseum und der Petersdom stehen im Vordergrund der Betrachtung, sondern die Stadtbewohner selbst.

Eine Taxifahrt ans Meer endet beinahe mit der Erschießung des Lenkers durch die Fahrgäste. Dieser Auftakt der "Römischen Erzählungen" heißt "Der Dickkopf". Der solchermaßen charakterisierten Titelfigur des Taxifahrers gelingt es, seine gewaltbereiten Passagiere davon abzubringen, ihn zu ermorden und sein Auto zu stehlen. Am Ende klagt der Dickkopf bloß über die verlorene Zeit und das vergebens aufgewendete Benzingeld. Und schon springt der nächste Fahrgast in das Taxi.

Wir schreiben das Jahr 1954. Knappe neun Jahre sind seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen. Alberto Moravia veröffentlicht den ersten Band seiner "Römischen Erzählungen". Es sind die Jahre des "Boom Economico", die er literarisch festhält. Es sind sogenannte Aufbaujahre, in denen "il Ventennio" - die zwanzig Jahre des italienischen Faschismus - so schnell wie möglich vergessen werden sollen.

Die "einfachen Leute"

Eine schöne aber habgierige Principessa treibt mit allen Mitteln den Verkaufspreis einer Wohnung in ihrem heruntergekommenen Palazzo in die Höhe. Die blaublütige Protagonistin der Erzählung "Der Vermittler" bildet eine Ausnahme in der Besetzungsliste von Alberto Moravias "Römischen Erzählungen". Es sind die sogenannten "einfachen Leute", die den Kosmos der "Racconti Romani" bevölkern.

Gauner, Tagediebe, Gelegenheitsprostituierte. Moravias Figuren sind spontan und leidenschaftlich, ehrlich und kritisch. Sie denken oft ans Töten, und manchmal tun sie es auch.

Blütezeit der Cinecittà

Das Erscheinungsjahr der Erzählungen ist das Jahr, in dem Zampanò und Gelsomina in Federico Fellinis "La Strada" unterwegs sind. Es ist das Jahr, in dem Ingrid Bergmann unter der Regie ihres Ehemannes Roberto Rossellini das Ehedrama "Viaggio in Italia" durchmacht. Rom ist in den 1950er Jahren Filmstadt, und als solche zeigt es sich auch in Moravias Erzählungen.

Die beiden Frauen Mimosa und Iris wollen unbedingt zum Film. Um zu Probeaufnahmen zu kommen, geben sie sich als feine Töchter eines Eisenbahningenieurs aus. Lüge steht gegen Lüge. Der vermeintliche Regisseur, den sie bezirzen, ist lediglich ein Kameramann.

Alberto Moravia schöpft aus dem Vollen in seiner literarischen Analyse der Römerinnen und Römer. Meist sind es Erotik, Begierde und Lust, die die Handlung der Geschichten antreiben.

Geschulte Beobachtungsgabe

Zu schreiben begonnen hatte der 1907 geborene Alberto, der eigentlich Pincherle hieß, wegen einer Krankheit. Als Kind litt er an Knochentuberkulose, die Krankheit wurde falsch behandelt und Moravia verbrachte mehrere Jahre hauptsächlich lesend in Sanatorien. Ein lebenslanges Hinken blieb ihm als Erinnerung an eine Kindheit, die vor allem von Unbeweglichkeit und Langeweile geprägt war, die den Autor aber auch in seiner Beobachtungsgabe schulte.

Mit 18 begann Moravia seinen ersten Roman. Vier Jahre später waren "Die Gleichgültigen" fertig. Dem Epos über Dekadenz und Ennui, über Sex und Geld, war durchschlagender Erfolg beschieden. Es gilt als eine Vorahnung des Existenzialismus durch den frühreifen Schriftsteller.

Die Faschisten verbaten Moravias Bücher. Dem Autor drohte Gefangennahme, der er mit seiner Frau Elsa Morante – auch sie eine bedeutende Autorin - durch die Flucht in die Berge entkam.

Reisereportagen für die Zeitung

Moravia schrieb weiter. Nach dem Krieg kam "Agostino" heraus, die stimmungsvolle Geschichte eines 13-jährigen Buben, der mit seiner geliebten Mutter die Ferien am Meer verbringt. Kurz darauf zeigen die beiden in den Jahren 1954 und 1959 veröffentlichten Bände der "Racconti Romani" den Autor am Zenit seiner Erzählkunst. Moravia bereiste Amerika, China und Afrika und verfasste Reportagen zu diesen Reisen im "Corriere della Sera".

In Alberto Moravias Werk spiegelt sich die italienische Zeitgeschichte. Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 war der Autor in Italien ein Säulenheiliger, eine intellektuelle Autorität. 1984 wurde er als Abgeordneter der Kommunistischen Partei Italiens ins Europaparlament gewählt.

Sex sells

Nach seiner Scheidung von Elsa Morante lebte Moravia viele Jahre mit der Schriftstellerin Dacia Maraini zusammen. 1986 erregte der rüstige 80-Jährige Aufsehen und fand sogar den Weg in die Klatschspalten, als er die fast 50 Jahre jüngere spanische Journalistin Carmen Llera ehelichte.

Moravias spätere Romane punkten vor allem mit Sex, die scharfsinnige psychologische Betrachtungsweise seiner "Römischen Erzählungen" erreicht der Autor nicht mehr.

Im typischen Moravia-Stil geschrieben
Alle 70 Römischen Erzählungen Moravias sind übrigens aus der Ich-Perspektive geschrieben. Die Sprache ist einfach, die Wortwahl naheliegend. Ausgefeilt und elegant ist der Satzbau - der typische Moravia-Schreibstil, den die Übersetzung von Michael von Killisch-Horn kongenial nachempfindet.

Die formal und inhaltlich präzisen "Römischen Erzählungen" sind jedenfalls eine bleibende literarische Leistung Alberto Moravias. Atemlos wird weitergeblättert, schon will der nächste Römer kennengelernt werden, will eine weitere knapp gefasste Lebens-Momentaufnahme gelesen werden. Am Ende der "Racconti Romani" steht das Gefühl, einer großen Familie begegnet zu sein, für deren Dokumentation dem Autor zu danken ist.

Service

Alberto Moravia, "Römische Erzählungen", aus dem Italienischen übersetzt von Michael von Killisch-Horn, Luchterhand Literaturverlag

Luchterhand - Alberto Moravia