Lachen und weinen
Die Kinder vom Schwedenstift
Im "Schwedenstift" in der Nähe von Wien leben schwerstbehinderte Kinder. Die Ursachen ihrer Behinderungen sind vielfach. Der erste Eindruck ist deprimierend, aber auf dem zweiten Blick zeigt sich: Sie können andere Menschen zum Lachen und Weinen bringen.
8. April 2017, 21:58
"Tut dir was weh?" Jammern. "Hast du Bauchweh? Kopfweh?" Klagelaute. "Drückt dich etwas?" Antje dreht den Kopf ablehnend zur Seite. Sie ist schlecht drauf. Das ist offensichtlich. Aber Antje kann nicht sprechen. Schwester Barbara bemüht sich redlich, herauszufinden, wo der Schuh drückt. Manchmal ist es tatsächlich der Schuh, denn die Füße stecken in orthopädischem Schuhwerk. Der Rücken wird durch ein Mieder gestützt. Barbara hat sich nahe zu der jungen Frau gebeugt, versucht Mimik und Laute zu deuten. Und ich stehe daneben.
Je länger das Rätselraten dauert, desto angespannter wird die Situation. Erstens möchte die Pflegerin Antje von ihrem Leid befreien, zweitens wartet noch eine Menge Arbeit und drittens möchte sie vor der Journalistin, die ihr über die Schultern schaut, einen Erfolg herzeigen. Das sagt sie nicht, aber das lässt sich spüren. Später werde ich am Schnittprogramm des Computers sehen, dass diese Szene nur vier Minuten dauerte, es kam mir länger vor.
Kinder in Krisensituationen
Mit Mikrofon und Aufnahmegerät begleite ich die Pflegerinnen des Schwedenstifts bei ihrer Arbeit. Das 1921 von wohlhabendenden schwedischen Bürgern in Perchtoldsdorf gegründete Heim ist heute eine Einrichtung des Landes Niederösterreich. Es bietet Kindern in Krisensituationen eine vorübergehende Bleibe und schwerstbehinderten Kindern ein dauerhaftes Zuhause.
Als ich von der Direktorin das erste Mal durch die Räumlichkeiten geführt werde, fühle ich mich von den Eindrücken etwas überfordert. Vielen ginge es so, werde ich später erfahren. Die Körper der Kinder sind verrenkt, die Augen oft verdreht, das Zahnfleisch zeigt Wucherungen. Da und dort liegt ein Kind auf dem Bauch, um den Schleim aus der Lunge abtropfen zu lassen. Röchelndes Atmen dringt durch den Raum, unterbrochen von spitzen Schreien oder heulenden Lauten. Worte hört man nur von den Pflegerinnen, die miteinander oder mit den Kindern sprechen: Erklärungen, Beruhigungen, Fragen ohne Antworten.
Jedem Kind seine Eigenheiten
Beim zweiten und dritten Besuch - den Schwedenstift-Mitarbeiterinnen kommt das schon eigenartig vor, was ich da mache, denn normalerweise sind die Berichte gleich am nächsten Tag in der Zeitung - bei meinen neuerlichen Besuchen also geht alles schon besser: Die Schwestern gewöhnen sich an das Mikrofon, ich sehe und höre differenzierter, nehme Dinge wahr, die mir beim ersten Mal entgangen sind. Ich sehe nicht mehr nur eine einheitliche Gruppe von Behinderten, sondern bemerke die Eigenheiten der jungen Menschen: Petzi liebt den Föhn und hat gern rosa Sachen an, C. schreit laut, wenn ihre Freundin K. Atemnot bekommt. Ich weiß, dass Wolfis Zähneknirschen heißt, dass man sich entfernen soll.
Ich kann es aushalten, dass ich ein paar Minuten im Kreis von Menschen sitze, die sich und mich anschweigen. Und ich weiß jetzt, wie ich die Kinder angreifen soll: nicht diffus, sondern klar und fest, ermuntert mich ein Betreuer.
Ich nehme die Palmers-Plakate wahr, die über den Betten der jungen Erwachsenen hängen. Die Fragen nach der Sexualität ist den Schwestern zunächst unangenehm: ein unsicheres Lachen, ein mühsames Umschreiben. Doch gegen Ende meiner Aufnahmen lächelt mich Schwester Doris schon an, nachdem sie einen Blick ins Badezimmer geworfen hat: "Die Hand bewegt sich noch, er ist noch nicht fertig."
Nonverbale Kommunikation
Trotz dieser positiven Entwicklungen merke ich beim Aufnehmen - und beim Abhören der Bänder wird es noch klarer -, so kann man nicht über die Schwedenstiftkinder berichten. Diese Schreie, das Röcheln, das Klagen: Welches Bild wird bei den Hörerinnen und Hörern entstehen? Eine Bestätigung der Meinung, dass so ein Leben nicht lebenswert ist? Tiefes Mitleid, weil es sich anhört, als müssten die Kinder dauernd leiden? Eine Verfestigung des Vorurteils, dass ein Heim schrecklich ist?
Ich könnte das nette Plaudern der Pflegepersonen mit ihren Schützlingen senden, sie könnten sich im Interview bemühen, das Schreien zu relativieren und die Kinder ein wenig zu beschreiben, aber diese Menschen würden geschichts- und gesichtslos bleiben. Doch mir wird klar: Sie sind nicht nur die "die Gepflegten", die Passiven, die, mit denen etwas geschieht. Sie selbst lösen in anderen Menschen Emotionen aus, fordern deren Fähigkeit zu nonverbaler Kommunikation heraus, sie setzen Bindungsprozesse in Gang.
Beziehungen zu "Normalen" aufbauen
Die Kinder vom Schwedenstift mögen vieles nicht können, aber sie besitzen die große Fähigkeit, Beziehungen zu ihren Mitmenschen aufzubauen. Und ich beschließe, den Fokus auf diese Beziehungen zu legen: Ein Lehrer findet durch die Beziehung zur elternlosen Mani in seinem Beruf endlich Sinn, die Pflegerinnen werden von Wolfi, der laut Prognose schon lange nicht mehr leben dürfte, jeden Tag aufs Neue überrascht, für eine Politikerin erfüllt sich mit der Patenschaft für den misshandelten Buben André die Sehnsucht nach einem Kind, und die Liebe von Stefans Eltern zu ihrem Sohn kann sich erst durch die Entlastung im Schwedenstift so richtig entfalten.
"Magst du in den Sandsack? Magst du ins Bett?" Jammern von Antje. Fragender Blick von Schwester Barbara. Plötzlich: "Ha! Magst du einen Kaffee?" Antjes Mundwinkel zucken, es folgt ein freudig klingendes "Jiii!". Die Schwester hält Antje die Tasse zum Mund. Meine Hand ums Mikrofon entkrampft sich, über die Kopfhörer dringt das Schlürfen und Schlappern an mein Ohr. Kaffee! Eh klar! Für mich auch, bitte.