von Hamid Sadr, Teil V

Der Gedächtnissekretär

Als ich mich fragte, wo jetzt die Naglergasse war, begann der Fliegeralarm:

Vom Luftalarm überrascht, schaut jeder zum Himmel! Mit dem Heulton der Sirenen rennt man den anderen nach, man will nur so schnell wie möglich in einen nahe liegenden Luftschutzkeller kommen. Wohin genau, wissen wir nicht - vielleicht in die Richtung Heidenschuss, denn es ist möglich, dass es dort einen LS-Keller gibt. Wie in Panik geratene Tiere, jeder will als erster den Keller erreichen, laufen wir alle hin. Die LS-Helfer und Polizisten treiben uns dann wie eine Schafherde in die Naglergasse hinein …

Dass der Gehsteig vor der Fahnenfabrik versperrt war, wusste ich schon, aber dass ich, um den Heidenschuss zu erreichen, über den Schuttberg hinauf klettern musste, erschütterte meine Jetzt-Welt endgültig. Ich glaube, zwischen Schulhof und Tankstelle holte mich die Vergangenheit ein. Das Sich-in-der-Zeit-glauben begann dort. Durch die staubige Luft wollte ich blind über die Straße laufen, als irgendwo ein offen gebliebener Fensterflügel zusammenschlug. Wollte ich nicht schnell zu dem Denk-Haus gehen? Mit den zwei restlichen Fotos in der Hand suchte ich rechts und links nach dem Haus. Auf dem Zettel stand: "Das Denk-Haus kurz vor dem Einstürzen." Aber wo genau, stand nicht.

In der Naglergasse warnen mehrsprachige Wandplakate vor den Plünderern. Wer denkt jetzt an Plünderer? Überall patrouilliert die Wehrmacht und LS-Wache mit entsicherten Waffen. M. ist zu meinem Bedauern noch nicht da. Wahrscheinlich verhindert (oder auch vom Alarm überrascht).

Vom Fliegeralarm gehetzt überquerten wir die Straße und rannten immer den weißen, in Leuchtfarbe gezeichneten Pfeilen nach, die uns dick auf die Hausmauern aufgetragen zum Luftschutzkeller führen sollten. Der Eingang zur Naglergasse wurde eng, denn alle, um ja nicht auf der Strecke zu bleiben, wollten gleichzeitig hinein.

Ich stellte mir die Stahlhelme in der engen Gasse vor, die Gewehre der Luftschutz-Helfer und die metallenen Blicke der Wehrmachtsmannschaft, während manche von ihnen im Wolkenstaub der Naglergasse die Schaufenster mit Holzbrettern zunagelten. Wozu, fragte ich mich? Die leeren, gelöschten Auslagen hatten ohnehin nichts zu bieten. Keine Rücksicht auf die Leute, dachte ich, und stieß alle, die mir in die Quere kamen, zur Seite. Auf der Höhe der Irisgasse aber wurde es plötzlich leer um mich herum, und, von einer Böe überrascht, geriet ich vollends in die Vergangenheit. In einer Panik, die durch ein fliegendes braunes Packpapier verursacht worden war (es schlug zuerst auf meinen Kopf, bäumte sich dann vor mir auf und blieb erst an der Mauer stehen), wich ich in die kleine Gasse Haarhof (eine an sich unbedeutende Verbindung zur Fahnengasse) aus.

Ich landete, ohne es zu wollen, hinter dem Vorbau an der Ecke mit dem einsamen Baum, dem ich einiges zu verdanken habe. Der Baum nämlich, selbst klein und unbedeutend, bot mir Schutz. Der erste Regentropfen fiel wie ein Kieselstein auf die trockenen, kreisenden Blätter um den Baum, die anderen folgten nach und nach. An die Hauswand gedrückt, beobachtete ich, wie zuerst der mittlere Teil der Gasse und dann die Mauerwinkel langsam dunkel wurden. Nach dem minutenlangen zermürbenden Geheul (von Sirenen des benachbarten Platzes) platzten die ersten Granaten über meinem Kopf, das Glucksen in der Höhe, ihr anschwellendes Pfeifen, dann das Ächzen der Detonation schreckte mich.

Herr Sohalt notierte: "In der Irisgasse kracht es …"

Halb zur Flucht gewandt, sah ich, wie zuerst der Zeitungskiosk und dann der Würstelstand in die Luft flogen. Der Blumenstand war noch unversehrt, aber alles andere brannte schon lichterloh. Die Tankstelle explodierte laut, und brennende Balken fielen aus den Dächern.

Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es vor dem Treppeneingang war oder schon nachher, das heißt, nachdem ich die Eisentür des Weinkellers geöffnet hatte: Ein Gefühl des Unbehagens, das beim Betreten eines fremden Lokals entsteht, ließ mich an der Türschwelle erstarren. Mit einem Mund voller Mörtelstaub aus dem Krieg und einem Kopf voller Zerrbilder von den Häuserruinen blieb ich dort stehen und zögerte, hineinzugehen. Ich glaube, eine Ahnung von Gestapo-Regenmänteln hing noch am Kleiderständer neben der Tür. Mit einem Doch nicht vor denen da sorgte die innere Stimme für Mut, indem sie auf die vor sich hindösenden, schwankenden Gestalten im Keller zeigte, welche herablassend und desinteressiert das Weinglas zu den geschlossenen Lippen führten und es dann lautlos auf den Tisch stellten.

Verursacher dieses beklemmenden Gefühls konnte kein anderer als Sohalt selbst sein, der mich aus seiner Unterbrechung des Satzes auf dem Zettel mitten auf der Naglergasse in die Vergangenheit entlassen hatte. Wie weit ich schon in seine Vergangenheit hineingelaufen war, wurde mir erst vor dem Glaskasten klar, als ich nicht mehr wusste, ob ich nun in einem Weinkeller oder, wie ich schon aus seinen Notizen entnommen hatte, in einem Luftschutzkeller war.

Buch-Tipp
Hamid Sadr, "Der Gedächtnissekretär", Deuticke, ISBN 3552060065