"Geschichten über Ehe und Sex", Teil IX

In "Geschichten über Sex und Ehe" befasst sich der tschechische Bestsellerautor Michal Viewegh mit viel Humor mit den, wie er meint, zwei wichtigsten Themen der Menschheit: dem Sex und der Ehe. Die 21 Erzählungen, die durch den Protagonisten Oskar miteinander verbunden sind, zeichnen den häufigen Verlauf von Liebes- und Lebensbeziehungen nach und fügen sich in ihrer Gesamtheit zu einem Roman mit starken autobiografischen Zügen.

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erscheinenden Buchs "Geschichten von Ehe und Sex".

Kapitel VIII: Die Kunst, allein und glücklich zu leben

Der Verlauf der Abende nach Oskars Scheidung und der ungeraden Wochenenden (jedes gerade Wochenende war sein Sohn bei ihm) waren schon von Anfang an wesentlich vom Telefon beeinflußt worden. Meist rief eine seiner Freundinnen von sich aus an, womit die Sache schon klar war. Denn er war, wenn eines der Mädchen ihn anrief, meist zu höflich, ihm einen Korb zu geben, auch wenn er gerade keine Lust hatte (das einzige, was er in Ausnahmefällen schaffte, war höchstens ein kurzfristiger Aufschub des Treffens). Wenn er freie Wahl haben wollte, mußte er somit selbst die Initiative ergreifen, das hieß: das abgegriffene Adreßbuch mit glattem, schwarzem Ledereinband zur Hand nehmen und so lange darin blättern, bis er sich für drei bis vier Telefonnummern entschieden hatte, die er dann nacheinander anrief. Aus Erfahrung wußte er, daß es nicht gut war, sich nur für ein Mädchen zu entscheiden; denn wenn dieses keine Zeit hatte oder nicht zu Hause war, dann würden alle anderen, die er beim zweiten Rundruf zu erreichen versuchte, in seinen Augen den Status von bloßen Lückenbüßerinnen haben. Natürlich favorisierte er im gegebenen Augenblick die eine oder andere, aber das Problem ließ sich einfach dadurch lösen, daß er die Reihenfolge festlegte, in der er die Nummern, für die er sich entschieden hatte, wählen würde (und hatte er gleich beim ersten Versuch Erfolg, rief er die anderen Nummern natürlich nicht mehr an).

"Ivetka, Ivetka", murmelte Oskar gerade. "Ivetchen mit den prächtigen Zähnchen ..."

Beim Durchblättern seines Adreßbuches machte Oskar auch heute halblaut einfältige und oft leicht vulgäre Bemerkungen, mit denen er allerdings nur das Gefühl der Einsamkeit vor dem kommenden Wochenende vertreiben wollte und die darüberhinaus in beträchtlichem Widerspruch dazu standen, wie aufmerksam und höflich er sich dann meist gegenüber den Mädchen benahm. Die Kommentare betrafen nicht nur das Aussehen der Mädchen oder ihr sexuelles Verhalten, sondern beispielsweise auch die Art, wie sie sprachen, ihr breites Lächeln, wie sie sich kleideten und schminkten oder wie sie im Restaurant das Besteck hielten.

"Soll ich etwa unsere vollbusige Aneta anrufen?" sinnierte Oskar laut, während er die Seiten umblätterte.

Schließlich verwarf er die Idee mit Aneta (Sinn für Humor fehlte ihr fast völlig, und außerdem hatte sie die Tendenz, sich zu sehr an Oskar zu binden) und entschied sich für Klára, Iveta und Darja, in dieser Reihenfolge. Klára war schrecklich langweilig (sie hatte mehrere Haustiere, über die sie ihm jedes Mal ganz genau Bericht erstattete), aber der Reiz ihrer neunzehn Jahre konnte diese Unzulänglichkeit wettmachen. Darja war von diesem Dreiergespann die Intelligenteste, aber manchmal roch sie - mit Verlaub - nach Schweiß; Iveta benahm sich wiederum zu affektiert, spielte übertrieben ihre Rolle und lachte über jeden Stumpfsinn, war aber andererseits außergewöhnlich gut im Bett. Für die Reihenfolge, die Oskar schließlich wählte, waren somit auch scheinbar bedeutungslose Details entscheidend - zum Beispiel Verkleinerungsformen vom Typ Kerlchen oder Happilein, die Darja gelegentlich verwendete und die Oskar so widerwärtig waren, oder der boshafte Ton, mit dem Iveta aus ihm unverständlichen Gründen unlängst einen ganz netten Kellner im Restaurant Colosseum angeherrscht hatte, und natürlich die unbeschreiblich reizende Art, mit der sich Klára auf den Stufen zur U-Bahn bei ihm unterhakte.

"Klára", sagte sich Oskar halblaut, "ich rufe Klára an."

Während er die Nummer eintippte, dachte er daran, daß sich Klára die Schamhaare rasierte - sie trug hoch ausgeschnittene Höschen und Badeanzüge, so daß sie sich fast ganz rasieren mußte, wobei nur ein kleiner schwarzer Streifen über dem Venushügel zurückblieb. Oskar wünschte sich plötzlich sehr, Klára möge doch zu Hause sein und Zeit für ihn haben. Wenn sie am Abend von einer Bar zurückkamen, schlief sie zwar in der Regel gleich ein, dafür aber in der Früh ...
"Heb schon ab, Häschen", sagte Oskar mit der Stimme eines erfahrenen Verführers (der er natürlich nicht war), "und ich bringe dir ein Frühstück ans Bett, das du dein ganzes Leben nicht mehr vergißt ..."

Es meldete sich der Anrufbeantworter; Kláras Stimme klang lieb und kindlich.
"Guten Tag, ich bin nicht zu Hause, Sie können bitte -“

Oskar legte auf und suchte mit eigenartiger Entschlossenheit sofort Ivetas Nummer heraus, aber auch in ihrer Wohnung reagierte niemand auf das Läuten des Telefons.

"Ihr Geißlein, öffnet das Tor, ich bin es, euer Mütterchen", blökte Oskar, schon einigermaßen nervös. Er wußte nur zu gut, daß es ein schicksalshafter Fehler sein konnte, diese Telefonate auf den Freitagnachmittag zu verlegen, wenn die Mädchen meist schon irgend etwas vorhatten.

Er legte auf. Also Darja? Er stand auf und ging einige Male in der Wohnung hin und her. Warum eigentlich nicht? Er setzte sich erneut ans Telefon und tippte ihre Nummer ein. Er mußte daran denken, was Darja wohl sagen würde, wenn sie wüßte, daß er sie erst als Dritte in der Rangliste anrief. Sie würde sich natürlich gekränkt fühlen - wobei das Maß ihres Ärgers umgekehrt proportional zur Bereitschaft stehen würde zuzugeben, daß auch sie, bevor sie Oskar anrief, so manches Mal überlegte, ob sie wirklich die Nacht mit einem Mann verbringen wolle, der die ekelhafte Angewohnheit hatte, mit dem Finger ihren After zu berühren und ihr das klebrige Sperma auf Brüsten und Hals zu verschmieren ... Oskar lächelte kurz. Das Tüten des Telefons rief in ihm das vertraute Bild von Darjas Garçonnière hervor: Er stellte sich das Muster ihrer Bettwäsche und die rosarote Öffnung ihres entzückenden Hinterns vor.

"Möge sie doch zu Hause sein, mein Gott, möge sie doch zu Hause sein", plapperte er nachdrücklich vor sich hin, bereit, sofort in den entsprechend ungezwungenen, fröhlichen Ton überzugehen. Er war schon so weit, nicht nur den sauren Gestank ihres Schweißes zu tolerieren, sondern auch die peinlichsten und dümmsten Verkleinerungsformen auf der Welt - allerdings hob auch diesmal niemand den Hörer ab.

"Mein Gott, wo sind die Ziegen bloß alle?!" rief Oskar und blickte schon zum wiederholten Mal auf die Uhr. Zerstreut blätterte er im Adreßbuch, und ein verzweifeltes Gefühl von Verlassenheit machte sich in seinem Innersten breit.

Er versuchte, seinen Sohn anzurufen, dann seinen Freund Jirí und dann noch einen anderen Freund, aber niemand war zu Hause. Er setzte sich in der Küche an den Tisch und verbrachte dort eine ziemlich düstere halbe Stunde, in der er zwei Orangen schälte und dann aufaß und dabei mit dem Metallstiel der Füllfeder aus den Orangenschalen kleine Rädchen herausstanzte. Er stellte daraus mehrere Gebilde zusammen, fegte dann aber, als hätte er plötzlich eine Erleuchtung, mit einem ungläubigen Kopfschütteln die ganze Unordnung vom Tisch.

Schließlich sagte er sich, daß er doch noch Aneta anrufen könnte - wobei jenes sagte er sich den Zustand, in dem er sich gerade befand, viel besser zum Ausdruck brachte als ein eventuelles er beschloß, da seine Zwangslage schon jeglicher Entschlossenheit entbehrte. Das Telefon wurde von Anetas Mutter abgehoben; als sich Oskar vorstellte, wurde ihre Stimme auffallend freundlicher, was Oskar in der gegebenen Situation widerwärtig war: Sie bedaure schrecklich, aber Aneta sei jetzt gerade, es sei nicht einmal fünf Minuten her, zu einer Freundin gefahren. Ob sie vielleicht etwas ausrichten könne? Wenn Oskar wolle, könne sie aber auch in Anetas Zimmer nachsehen, ob dort nicht etwa die Nummer dieser Freundin zu finden sei? Oskar lehnte dankend ab, verabschiedete sich und legte auf.

Er flüchtete sich in ein Gefühl der Gekränktheit. Alle pfeifen auf mich, sagte er sich, wiewohl er wußte, daß das nicht wahr war. Er hatte mindestens ein Dutzend Menschen um sich, denen an einer Freundschaft mit ihm aufrichtig gelegen war, die ihm oft schrieben und ihn oft anriefen - aber auf die pfiff er wiederum. Also durfte er sich jetzt nicht beschweren. Nicht nur Woody Allen, alle wollen wir nur Mitglieder in einem Club sein, in dem man uns nicht haben will, dachte er. Er blickte aus dem Fenster: Der Verkehr auf der Straße wurde schon schwächer, alle waren in ihre Wochenendhäuser und Hütten gefahren. Eine Zeitlang ging er ziellos in der Wohnung umher und ließ dann Wasser in die Badewanne ein, setzte sich in die Wanne und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, worin Die Kunst, allein und glücklich zu sein bestand - wie der Titel eines Psychologie-Ratgebers lautete, den er sich kurz nach der Scheidung gekauft hatte. Obwohl immer mehr Menschen ein selbständiges Leben führen, wird es immer noch als bemitleidenswert angesehen. Aber ist es wirklich so bemitleidenswert? Ist ein selbständiges Leben nicht nur eine weitere Möglichkeit, die ihre Vor- und Nachteile hat, wie eben auch das Leben mit einem Partner? Er lachte auf, was ihm etwas an Gleichgewicht zurückgab. Im übrigen brauchte er das nicht zu dramatisieren, sagte er sich. Er würde sich einen ruhigen, angenehmen Abend zu Hause machen. Ein gemütliches Junggesellenleben mit Tee und Büchern, um mit Proust zu sprechen. Er würde lesen, schon mehr als eine Woche hatte er übrigens nicht zu einem Buch gegriffen, und vielleicht - wer weiß - würde er auch versuchen, etwas zu schreiben, eine kürzere Erzählung zum Beispiel. Das wäre herrlich. Er versuchte, an einige in Arbeit befindliche Themen zu denken, stellte aber bald fest, daß seine Sinne sich noch immer auf die verschiedensten Bilder der Mädchen konzentrierten, die er im Laufe der letzten Stunde leider nicht erreichen hatte können. Er versuchte, sich einige von ihnen vorzustellen, aber gerade in dem Moment, als er seine Erregung spürte, klingelte das Telefon. Er stieß einen Fluch aus. Das erste Läuten konnte er noch ignorieren, aber beim zweiten verlor er den Kampf mit dem eigenen Stolz, sprang aus der Wanne und hastete zum Apparat, wobei er auf dem Boden eine nasse Spur hinterließ.

"Ja, bitte“, meldete er sich reserviert.
Er bemühte sich, nicht keuchend zu klingen.
"Hallo, hier ist Klára. Was machst du gerade?"
"Ich schreibe. Ich arbeite."

Je besser wir fähig sind, unser eigenes Leben zu leben, umso zufriedener fühlen wir uns in unserem Inneren und mit uns selbst, und umso anziehender sind wir dann für die anderen. Er nahm den Hörer in die linke Hand und kratzte sich mit der rechten im Schritt.

"Aha", sagte sie enttäuscht. "Und du wirst das ganze Wochenende arbeiten?"
"Das wird man sehen", antwortete Oskar. "Hast du vielleicht einen Vorschlag für mich?"

Er war vierzehn Jahre älter als sie, und insgeheim wollte er sie diesen Altersunterschied in ihren Gesprächen manchmal spüren lassen.

"Tja, ich hätte da schon eine Idee ... Was machst du zum Beispiel heute abend?"

Er kehrte nicht mehr in die Badewanne zurück, sondern wusch sich die Haare unter der Dusche. Er trällerte ein Liedchen vor sich hin, stellte das Radio lauter und trocknete die Pfützen auf dem Parkett. Plötzlich läutete das Telefon noch einmal; er hätte es fast nicht gehört, aber nun kam es nicht mehr so sehr darauf an. Es war Aneta ; sie rief von der Freundin an - ihre Mutter hätte ihr gerade gesagt, daß Oskar sie angeblich gesucht hätte. Ob er was brauche?

Oskar stellte das Radio leiser, machte schlagfertig Witze, und Aneta lachte dankbar, aber ihr Lachen war nicht ganz entspannt; es war zu erkennen, daß sie von Oskar eine Einladung erwartete. Es war so augenscheinlich, und es machte sie so verletzlich, daß er es schließlich nicht übers Herz brachte, ihr diesen Gefallen nicht zu tun.

"Willst du, daß wir uns treffen?" fragte er quasi nebenbei.
"Gern," sagte Aneta mit hörbarer Erleichterung. "Heute?“
"Heute nicht", sagte Oskar. "Was ist mit Sonntag abend?"
"Das ginge. Oder morgen?"
"Morgen?" fragte Oskar. "Also gut. Wann? Um acht?"

Als er auflegte, lächelte er selbstgefällig. Zweifellos hat ein eigenständiges Leben seine positiven Seiten. Nadine erklärt dies folgendermaßen: "Die ersten paar Monate nach der Trennung von Brian waren einfach sensationell. Ich war total begeistert, daß ich alles so machen konnte, wie ich es wollte."

Bis zum Rendezvous mit Klára blieben noch fast vier Stunden. Oskar bestellte telefonisch einen Tisch in seinem Lieblingsrestaurant und räumte in aller Eile auf; einen Moment lang spielte er zwar mit der Idee, die Zeit zu nützen und die ganze Wohnung gründlich zu reinigen, aber dann stellte er nur das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler, machte das Bett und reinigte das Waschbecken und das WC. Er kochte Kaffee und nahm sich das Buch in die Küche mit, mit dem er vor etwa zehn Tagen angefangen hatte, später aber nicht mehr dazugekommen war; mehrmals mußte er deshalb zurückblättern, um sich in der Handlung und den Figuren wieder zu orientieren, aber trotz der anfänglichen Schwierigkeiten vertiefte er sich schließlich mit mehr Interesse, als er erwartet hätte. Die Lektüre gab ihm sogar die Konzentrationsfähigkeit zurück, so daß er sich schließlich von der Küche ins Arbeitszimmer begab, wo er dann mehr als dreißig Seiten seiner alten Notizen zu den vorbereiteten Erzählungen las, wobei er gleich einige neue und - wie ihm schien - ganz interessante Ideen hatte und nicht mehr aufhören wollte. Wenn er es sich jetzt aussuchen hätte können, wäre er lieber zu Hause geblieben und hätte weitergemacht - aber er mußte aufstehen, sich anziehen, zur Straßenbahn gehen und sich zwei oder sogar drei Stunden lang schwachsinnige Geschichten über Fische und ein Meerschweinchen anhören.

In der Straßenbahn machte er noch einen resignierten, abgestumpften Eindruck und sammelte Kräfte für das Konversationsmartyrium, zu dem er sich verpflichtet hatte - aber sobald er ausstieg und sie erblickte, war schlagartig alles anders. Selbstverständlich hatte er gewußt, dachte er bei sich, daß Klára außerordentlich hübsch war, aber es hatte sich wieder einmal bestätigt, daß es eine Sache war, sich zu Hause oder in der Straßenbahn ihre Schönheit ins Gedächtnis zu rufen - und eine andere, ihr direkt gegenüberzustehen ... Nach außen hin gab er sich auch weiterhin leger und sogar etwas ironisch, aber in seinem Inneren war er erneut von Kláras Reiz hingerissen - von ihren glatt gekämmten schwarzen Haaren, leuchtenden Augen und ihrer feinen Haut. Er fand es unglaublich, daß es ihm schon mehrmals erlaubt gewesen war, eine solche Schönheit zu berühren, und er hoffte fest darauf, daß dem auch heute so sein würde.

"Guten Abend, Herr Schriftsteller", sagte sie spöttisch, sich der Wirkung auf Oskar bewußt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt ihm das Kinn hin; mehrere Passanten nahmen den Kuß wahr.

"Hallo", sagte Oskar. "Hast du auch nicht vergessen, die Fische zu füttern?"
Sie schob ihn weg.

"Heute darfst du mich nicht auf den Arm nehmen, denn ich habe schreckliche Probleme. Wirklich schreckliche!"

Der Kellner, der sie zum Tisch führte, kannte Oskar und konnte sich offensichtlich auch an Klára erinnern; als er das Öllämpchen anzündete, warf er ihr einen verstohlenen Blick zu. Oskar blickte sich mit einem Lächeln um: Sie hatten einen guten Platz, nur der große Nebentisch, an dem sechs Leute ungefähr in Oskars Alter - vier Frauen und zwei Männer - saßen, stand für seinen Geschmack etwas zu nahe. Die Nachbarn schienen sich zwar gut zu unterhalten (zumindest sah niemand von ihnen so aus, schoß es Oskar durch den Kopf, als hätte er wie er den halben Nachmittag mit verzweifelten Telefonaten verbracht), aber trotzdem verstummten sie für einen Augenblick, als Oskar und Klára kamen.

"Zuerst essen wir einmal in Ruhe, okay?" schlug Oskar Klára möglichst leise vor. "Über deine schrecklichen Probleme werden uns nachher unterhalten."

Er bemerkte, daß am Nebentisch schon abserviert war, und hoffte, daß die Leute wohl bald gehen würden, noch bevor Klára loslegte (normalerweise sprach sie auch über ganz alltägliche Probleme laut, und Oskar wollte sich ihr Gespräch über ihre schrecklichen Probleme lieber nicht vorstellen), allerdings wurden am Nebentisch gleich darauf noch zwei Flaschen bestellt - gerade in dem Moment, als Klára mit ihrer Litanei anfing. Andererseits war er ganz froh, daß sie noch blieben, denn ihre klugen, fröhlichen Gesichter waren ihm auf Anhieb sympathisch gewesen; er schätzte, daß es sich um Studienkollegen von der Hochschule oder etwas Ähnliches handelte. Er war sich im Klaren darüber, daß der ihm gebührende Platz eben dort unter diesen Leuten gewesen wäre, die wie er offensichtlich schon fast erwachsene Kinder hatten und allmählich älter wurden. Er wußte auch, daß er sich mit ihnen sicher unvergleichlich besser verstanden hätte als mit Klára, die ihn eigentlich langweilte, daß er auch als Erzähler einen unvergleichlich größeren Spielraum gehabt hätte und sein Können auch mehr gewürdigt worden wäre - aber zugleich hätte er mit keiner der vier Frauen ausgehen wollen. Auch wenn er theoretisch in dieser Runde gesessen hätte, hätte er ohnehin den ganzen Abend nur Klára angestarrt. Kurz - es war wie fast immer: Wenn er in der Nacht sein wahres Ich ausleben wollte, mußte er sich am Abend davor verleugnen.

Er hörte Klára nur halb zu (schon längst war er dahintergekommen, daß er in ihrem Falle auch mit nur fünfzigprozentiger Aufmerksamkeit den Eindruck eines Anteil nehmenden Zuhörers erwecken konnte - es genügte völlig, im richtigen Augenblick irgendeine banale psychologische Weisheit einzuwerfen, die Klára dann für einen wertvollen Ratschlag hielt), und die andere Hälfte der Aufmerksamkeit teilte er zwischen seinem Teller, dem Inhalt von Kláras Glas und jener schwarzhaarigen Frau mit kurzem Haarschnitt am Nachbartisch auf, die ihm schon mehrmals einen neugierig-spöttischen Blick zugeworfen hatte; wenn sie lächelte, bekam sie rund um die Augen plötzlich zahlreiche Falten. An allen derzeitigen Problemen Kláras, wie er verstand, war ihr Chef schuld: Angeblich wollte er ihr nicht erlauben, den Zeitpunkt ihrer Mittagspause selbst zu bestimmen, stattdessen schicke er sie zum Mittagessen, wann es ihm gerade passe. Klára könne sich somit nicht mit einer Freundin fürs Mittagsessen verabreden geschweige denn einen Termin bei der Maniküre oder beim Friseur fixieren, kurz und gut überhaupt nichts, weil - wenn sie beispielsweise einen Termin um zwölf habe und sie dieser Holzkopf erst um zwei rauslasse - natürlich keine Friseurin der Welt auf sie warten würde, das verstehe sich von selbst. Ihr ganzes Leben sei wegen dieses eingebildeten Hundes von Chef auf den Kopf gestellt. Sie komme zu rein gar nichts. Manchmal falle sie vor Hunger buchstäblich in Ohnmacht, so daß sie die Mädels vom Export bitte, ihr von draußen ein Sandwich oder drei Lachsbrötchen mitzubringen; diese könnten im Unterschied zu ihr mittagessen gehen, wann sie wollten - und da sollte Klára noch einmal jemand mit der Gerechtigkeit kommen! Dann stopfe sie sich die Brötchen heimlich vor den Kunden hinein, alles rundherum sei angepatzt - und wie stehe dann die Firma da? Und wenn sie ihr Chef dann gnädigerweise gehen lasse, habe sie keinen Hunger mehr, dann gehe sie also nicht mittagessen, sondern friere anderthalb Stunden draußen völlig umsonst in den Straßen und kaufe Dummheiten ein, weil ihre Friseurin natürlich schon längst anderweitig besetzt sei.

Oskar machte ein mitfühlendes Gesicht. Dann sagte er leise, er sehe, Klára benötige etwas Zerstreuung; wie wäre es, wenn sie jetzt gleich zahlen und irgendwohin tanzen gehen würden? Klára hatte natürlich keine Lust, den Ort zu wechseln - sie fühle sich hier sehr wohl; sie würde jetzt auf die Toilette gehen, und Oskar solle noch eine Flasche bestellen. Sie stand auf und stöckelte in Richtung Toilette. Oskar bemerkte, daß die beiden Männer vom Nebentisch sie unauffällig betrachteten. Er lächelte verständnisvoll, denn das Gespräch am Nebentisch drehte sich nun schon geraume Zeit um Probleme, die bei einem großen Altersunterschied zwischen den Partnern auftreten können.

"Gibt es denn ein Mannsbild auf der Welt, das es schafft, nicht der Sklave seines Penis’ zu sein?" fragte die sympathische Schwarzhaarige laut. Obwohl sie sich zum Schein an ihre Runde wandte, bestand kein Zweifel, wem vor allem ihre Frage gegolten hatte. Es klang fast arrogant, so daß sich einer der Männer bemüßigt fühlte, Oskar ein entschuldigendes Lächeln zu schenken.

"Gute Frage", sagte Oskar. "Das geht direkt an den Kern der Sache."
Die Frau betrachtete ihn.
"Gibt es so einen Mann?"
"Der Papst", sagte der andere Mann, und auch er zwinkerte Oskar zu.
"Schon etwa seit einem Jahr", sagte der erste Mann.

Oskar stimmte in ihr Lachen ein, wodurch er gewissermaßen offiziell in ihre Runde aufgenommen worden war.

"Nein, im Ernst: Gibt es solche Mannsbilder?" wiederholte die Schwarzhaarige ihre Frage; diesmal wandte sie sich ganz unverhohlen an Oskar. Dieser zuckte mit den Schultern, konnte aber nicht mehr antworten, da er rechtzeitig bemerkte, daß Klára zurückkam.

Von diesem Zeitpunkt an spielte er auf beiden Seiten. Dem Gespräch am Nebentisch hörte er jetzt mehr als Klára zu, und seine Worte an Klára enthielten fast jedes Mal irgendeine zweite Bedeutungsebene, irgendeine Anspielung, die nicht für sie bestimmt war, sondern für die Leute von nebenan. Als Klára zum Beispiel ein geplantes Rockkonzert erwähnte, nützte er gleich die Gelegenheit und lenkte das Gespräch auf den Auftritt der Rolling Stones in Prag, den Klára und er im August besucht hatten - und von dem er schon mehrmals mit Erfolg erzählt hatte.
"Ich bitte dich, unterhalte dich mit mir nicht über Rockkonzerte“, sagte er scheinbar ernst. "Hast du schon vergessen, wie unnatürlich, ja geradezu plump ich mich zuletzt beim Konzert der Rolling Stones benommen habe? Ich war offenbar der einzige in der Sporthalle, der während des ganzen Konzerts die Hände nicht aus der Hosentasche hervorgeholt hat."

Die Schwarzhaarige und die anderen brachen in Gelächter aus.

"Und weißt du, warum?" fragte Klára. "Ich sag dir, warum: weil du dich einfach nicht entspannen kannst."

"Ich habe mich bemüht, mich zu entspannen, deshalb bin ich letzten Endes ja hingegangen. Ich hatte allerdings nicht geahnt, daß die Leute bei einem Rockkonzert so sehr wegtreten, daß sie jedesmal, wenn sich ein verschwitzter Engländer von mehr als fünfzig Jahren auf der Bühne hinkniet oder das T-Shirt hochrollt, vor Begeisterung zu brüllen beginnen."

"Dieser verschwitzte Engländer - falls du es zufällig noch nicht wissen solltest - heißt Mick Jagger. Und nebenbei ist er noch immer ziemlich sexy!"

"Und das gibt ihm etwa das Recht, mir gegenüber obszöne Gesten zu machen oder selbstgefälligerweise davon auszugehen, daß ich seine niveaulosen Liedtexte aus was weiß ich für einem Grund auswendig kann?"

"Du bist echt schrecklich!"

"Ich gebe zu, Mick Jagger ist für sein Alter in ausgezeichneter Form, Hut ab, aber wenn jemand in ausgezeichneter Form ist, dann ist das für mich noch lange kein Grund, daß ich alle fünf Minuten drei Mal in hysterisches Gebrüll ausbreche. Also warum sollte ich kreischen? Weil er sich hingekniet hat? Kann ja sein, daß er nur hingefallen ist!"

"Du bist hingefallen!" lachte Klára und die von nebenan auch.

Mittlerweile hatte sie schon bemerkt, daß ihnen die Leute vom Nebentisch zuhörten, aber sie nahm an, daß sie ebenso wie sie über Oskar lachten, und warf ihnen deshalb einen ostentativ leidenden Blick zu.

"Was für ein Unterschied besteht zwischen einem stehenden und einem knienden Sänger?" fragte Oskar. "Ich gebe zu, ich kann beim besten Willen keinen erkennen."

Er schwätzte noch eine ganze Weile so dahin, und als er dieses Thema für erschöpft erachtete, fragte er Klára, wie es ihrem Meerschweinchen ginge; wie er geahnt hatte, wurde er von ihren Antworten nicht enttäuscht. Er wollte nicht, daß sich die Schwarzhaarige auf seine Rechnung amüsierte, so daß er einen Weg finden mußte, wie sie sich beide auf Kláras Kosten unterhalten konnten.

"Bobíek?" fragte Klára zärtlich. "Mein Bobí_k ist so süß. Er ist so ein goldiges Zuckermäulchen. Er ist mein Schnucki-Butzi.“

Langsam tat der Alkohol seine Wirkung. Als sie sich etwas später zum zweiten Mal auf die Toilette begab, trat an beiden Tischen kurz nachdenkliche Stille ein.

"Ist es das ganze Theater überhaupt wert?" fragte die Schwarzhaarige schließlich.

Der Mann zu ihrer Linken versuchte noch, ihr den Mund zuzuhalten, aber sie schob seine Hand weg.

"Wegen zehn Minuten sich das da stundenlang anhören müssen?"

Ihre Tischgenossen machten ein peinlich berührtes Gesicht.

"Ich gebe zu, daß ich da gelegentlich sehr ähnliche Überlegungen anstelle", sagte Oskar ruhig.

"Wissen Sie, wie mir das vorkommt? Wie zwei Tage mit dem Autobus nach Griechenland zu fahren, um dort ein Mal baden zu gehen, und dann wieder zwei Tage zurückzufahren."

"Eine suggestive Metapher", gab Oskar zu. "Da ist was dran."

"Ich verstehe das nicht", meinte die Frau. "Wie kann man sich das freiwillig antun? Wie halten Sie das aus?"

Oskar zuckte erneut mit den Schultern.

"Ich weiß es eigentlich selbst nicht ... Kann das nicht vielleicht damit zusammenhängen, daß ich schrecklich gerne baden gehe?"

Es folgte Gelächter an beiden Tischen.
"Für die Schönheit", ließ einer der Männer verlauten, "muß man halt leiden."

Als Oskar in der Früh vom Badezimmmer zurückkehrte und mit seinen noch nassen Lippen die nackte Schulter der schlafenden Klára leicht berührte (als sie in der Nacht zu ihm nach Hause gekommen waren, war sie natürlich gleich eingeschlafen, aber das störte ihn nicht sehr, da er wußte, daß sie ihn in der Früh für alles entschädigen würde), kam ihm plötzlich der Gedanke, was für ein Zufall all das eigentlich war. Als er jetzt den Geruch von Kláras Haaren einatmete und ihr über die Brust und den Rücken streichelte, fühlte er nahezu Liebe zu ihr - hätte er allerdings gestern das Telefon nicht abgehoben oder hätte er zuvor eine andere Begleiterin erreicht, würde hier jetzt ein ganz anderes weibliches Wesen liegen, dem er vermutlich die gleichen Empfindungen entgegenbringen würde. Er würde sie mit der gleichen Zärtlichkeit streicheln wie eben gerade Klára - obwohl es eine ganz andere Person wäre.

Diese Einsicht berührte Oskar unangenehm - aber als er dann der gerade aufgewachten Klára die Decke wegzog, dachte er nur mehr daran, daß die Rasierklinge, mit der er sich zuvor rasiert hatte, praktisch ebenso breit war wie Kláras schwarzer Streifen. Sie umarmte ihn, er lief aber noch kurz in die Küche. Er fand ein Tablett, auf das er eine Vase mit gelben Gerbera stellte, aus dem Bad brachte er Mundwasser, ein leeres Glas, den Rasierapparat und Rasierschaum. Diese Utensilien stellte er auf das Tablett und brachte es zurück ins Schlafzimmer.

"Frühstück", sagte er mit einem Lächeln.

Klára betrachtete die Gegenstände auf dem Tablett mit wachsendem Interesse.