von Walter Kohl

Ritzen

Fritzi ist vierzehn und will sich durchs Hineinschneiden ins wirkliche Leben zurückholen. Sie sitzt vor ihrem Rechner und chattet, konstruiert für sich virtuelle Existenzen - ein Spiel. Ihr reales Leben sieht ganz anders aus.

"Eigentlich macht es jeder."

(…) Bin eine, die nicht weint. Ist ein Übergang, sagen die dummen Alten, ein Übergang. Da Innen, dort Außen. Muss das eine zum Anderen hinaus, und das Andere zum Einen hineinkönnen. Ist aber keine Durchfahrt gestattet, musst zuerst ein Ritze machen, in die Mauer. Schlitz es auf, das Glitschhautding. Dann kann das Raus rein und das Rein raus. Jetzt siehst du von Draußen hinein und von Drinnen hinaus. Lass das kleine Ding in mir nach draußen sehen. - Und, was siehst du jetzt? - Sag ich doch, dieselbe Scheiße.(…)

Fritzi ist 14 und will sich durchs Hineinschneiden ins wirkliche Leben zurückholen. Sie sitzt vor ihrem Rechner und chattet mit ihren virtuellen "Freunden". Vorwiegend beschäftigt sie sich damit, auch für sich virtuelle Existenzen zu konstruieren. Sie sieht es als Spiel. Das reale Leben von Fritzi sieht anders aus. Mit ihrem Freund, dem HIV-positiven Michi, streift sie durch das reale Leben. Zwischendurch begegnet sie Mehmet, der sie vergewaltigt. Schließlich landen die beiden Ausreißer und Außenseiter Fritzi G. und Michael O. vor den Behörden: wegen Selbstgefährdung in der Irrenanstalt die eine und wegen Kleinkriminalität vor Gericht der andere.

Virtuelles versus reales Leben

Walter Kohl hat in seinem 2006 in Graz erstmals in Österreich aufgeführten Theaterstück die Situation und die Resignation von Jugendlichen, die durch ihre Selbstverletzungen versuchen, sich einen letzten Freiraum zu verschaffen, beschrieben. Er spricht in diesem Monolog alle möglichen inneren Konflikte Fritzis an, die sich eben im Leben einer 14-Jährigen so abspielen können.

Natürlich ist sie von ihren Eltern vernachlässigt. Der Vater hat sich längst verabschiedet, ihre Mutter gibt sich ihren nicht allzu selten wechselnden Liebhabern hin. Fritzi versucht schließlich durch den Aufbau einer Scheinwelt und das Sich-Aufschneiden eine Art Kontakt mit der realen Welt herzustellen und mit dieser zu kommunizieren. Dennoch steht diesen Versuchen viel entgegen, oder um genau zu sein: eigentlich alles.

Sozialstudie im Radio

Alfred Pittertschatscher und Beatrice Boca haben aus Kohls Theaterstück ein Hörspiel für das Landesstudio Oberösterreich gemacht, in dem Boca, wie auch auf der Bühne, die Rolle der 14-jährigen Fritzi übernimmt. Entstanden ist eine Sozialstudie, die den Hörer durchaus berührt. Pittertschatscher schreibt in einem Text zum Stück, in dem er sich mit der Situation der oberösterreichischen Jugendlichen auseinandersetzt, Folgendes:

Allein in Oberösterreich soll es mindestens 8.000 Jugendliche betreffen, denen es ähnlich wie Fritzi ergeht. Aber niemand spricht darüber. In Jugendstudien schätzen fast zwei Drittel der befragten Jugendlichen ihre Lebenssituation allgemein als gut bzw. sehr gut ein, 28,5 Prozent als mittelmäßig, und nur 4,5 Prozent als schlecht oder sehr schlecht. Männliche Jugendliche schätzen ihre Lebenssituation durchwegs positiver ein als weibliche, Migrantenjugendliche durchwegs negativer als inländische Jugendliche.

Im Hinblick auf die persönlichen Zukunftsperspektiven herrscht Optimismus vor: Über 90 Prozent sehen ihre persönliche Zukunft eher bzw. sehr zuversichtlich, "nur" rund 9 Prozent sehen ihre Zukunft weniger oder überhaupt nicht zuversichtlich. 95 Prozent der Jugendlichen gehen davon aus, dass ihr Leben in zehn Jahren besser oder zumindest gleich gut sein werde wie heute. Migrantenjugendliche und männliche Jugendliche haben einen signifikant höheren Zukunftsoptimismus, ebenso Jugendliche in berufsqualifizierenden Schulen gegenüber allgemeinbildenden Schulen. Die Zukunft der Gesellschaft wird mit schwärzerer Brille gesehen. So besagt es zumindest die Statistik.

Zum Autor

Walter Kohl wurde 1953 in Linz, Oberösterreich geboren. Nach seiner Matura 1971 begann er ein Studium der Betriebswirtschaft, das er jedoch ohne Abschluss wieder beendete. Von 1988 bis 1996 arbeitete er als Oberösterreich-Korrespondent der Tageszeitung "Die Presse", seit 1996 ist er als freier Schriftsteller tätig. An Radioarbeiten kann er neben "ritzen" auch die Hörspiele "Good Hope" sowie "Die Saugruft" vorweisen.

Neben seiner Tätigkeit als Dramatiker fungierte Kohl auch als Herausgeber mehrerer Bücher für österreichische Verlage wie Bibliothek der Provinz, Picus, Residenz und die Edition Geschichte der Heimat. Kohl ist Mitglied der Grazer Autorenversammlung und des Kulturvereins "Netzwerk Memoria". Er war eines der Gründungsmitglieder der "Nenzinger Gruppe". 2003 erhielt er das Mira-Lobe-Stipendium, 2004 den "Ohrwurm-Hörspielpreis" gemeinsam mit Steffen Moratz. 2005 schließlich folgte der "Österreichische Jugendbuchpreis" für seinen Text "fuck off, Koff".


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