von Johann Wolfgang von Goethe

Wahlverwandtschaften

Charlotte, Eduard, Ottilie und Otto: Goethe stellte sich in den "Wahlverwandtschaften" der Frage, wie Menschen ihre Partner auswählen. Gesellschaftliche Zwänge gegenüber persönlichen Empfindungen, erstaunlich modern behandelt.

Denken an das Glück

In der Bearbeitung und Regie Chris Pichlers wurden Goethes "Wahlverwandtschaften" am 21. Juni 2008 als Openair-Live-Hörspiel in Kooperation von Radio Oberösterreich mit dem Benediktiner-Stift Kremsmünster gezeigt. Vor der imposanten Kulisse des Stiftes wurde Johann Wolfgang von Goethes mittlerweile zweihundert Jahre "altes" und dennoch auch heute noch sehr modernes Prosastück aufgeführt, oder besser und treffender: vorgelesen.

Öffentliche Beziehungen

Dieser Mitschnitt, der etwas gekürzt und zeitversetzt dann auch von Radio Tirol und von Radio Steiermark übernommen wurde, führt sehr deutlich vor Augen, wie zeitgemäß der Dichterfürst eigentlich ist. Mit der Thematik, die er sich hier gewählt hat, war er seiner Zeit weit voraus; sie beweist, dass Goethe es verdient, dass man sich auch heute noch mit seinem Werk beschäftigt. Und das mehr, als der Ruf, der ihm vielleicht anhaften mag, vermuten lässt. Für den Hörer dieser Produktion ist es faszinierend, wenn er für zwei Stunden in eine Welt eintauchen kann, die vor 200 Jahren in sehr vielem so war, wie die heutige. Nur mit dem Unterschied, dass damals darüber laut, symbolhaft und vor allem öffentlich über die hier dargestellte Beziehungsproblematik nachgedacht wurde.

Goethe stellt sich in den "Wahlverwandtschaften" der Frage, wie denn Menschen ihre Partner auswählen. Und er greift dabei auf die Naturwissenschaften, genau genommen die Chemie zurück: Der schwedische Chemiker und Mineraloge Torbern Olof Bergman beschrieb in seiner 1775 erschienenen Abhandlung "De attractionibus electivis" das Phänomen, dass bestimmte chemische Elemente bei der Annäherung anderer Stoffe ihre bisherige Verbindung lösen und sich mit diesen neu eingetretenen Elementen eben "wahlverwandtschaftlich" vereinigen.

Annäherungen und Vereinigungen

Dieses Bild der Vereinigung hat der Dichter aufgegriffen. Er erzählt die Geschichte Eduards, eines reichen Barons, der mit seiner Gattin Charlotte in zweiter Ehe zurückgezogen in einem Schloss lebt. Umgeben ist dieses von einem großen Park, und die beiden widmen sich vornehmlich der Garten- und Parkgestaltung. Gestört wird diese Idylle erst, als Eduard seinen Freund Otto, einen in Not geratenen Hauptmann, einlädt, auf dem Anwesen einzuziehen. Charlotte lässt es sich daraufhin nicht nehmen, ihre Nichte Ottilie herbeiholen lassen, damit diese ihr Gesellschaft leistet.

Sehr bald allerdings fühlen sich Eduard zu Ottilie und Charlotte zum Hauptmann hingezogen. Und eines Nachts schließlich gelangt der im Schloss auf der Suche nach Ottilie umherirrende Eduard ins Schlafzimmer Charlottes. Während die beiden sich lieben, haben sie jedoch den jeweils anderen Partner in ihren Gedanken. Aus dieser Vereinigung geht ein Kind hervor, das allerdings nicht seinen leiblichen Eltern, wohl aber deren jeweiligen Wunschpartnern erstaunlich ähnelt. Als der Abschied von Ottilie und dem Hauptmann bevorsteht, gesteht Eduard Ottilie seine Liebe, während Otto und Charlotte sich wortlos darauf verständigen, ihren Gefühlen füreinander zu entsagen.

Aus Verzweiflung über die verfahrene Situation zieht Eduard in den Krieg. Während eines Bootsausflugs, bei dem der aus dem Krieg wieder zurückgekehrte Eduard Ottilie erneut mit seinen Gefühlen bedrängt, ertrinkt das Kind. Nach diesem Unglück beschließt nun auch Ottilie, ihrer Liebe zu Eduard zu entsagen und hungert sich zu Tode. Eduard, der nach diesen tragischen Ereignissen keinen weiteren Sinn in seinem Leben sieht, stirbt vor Einsamkeit. Seine rechtmäßige Gattin Charlotte lässt selbstlos die beiden in der Kapelle des Schlosses nebeneinander beerdigen, damit sie wenigstens im Tod zueinander finden können, und beweist damit ebenfalls wahre Größe und Liebe.

Vom Roman zum Hörstück

Goethe beschäftigt sich in seinem aus zwei Teilen mit jeweils 18 Kapiteln bestehenden Werk sehr umfassend mit der Frage der Unumstößlichkeit der Ehe. Er stellt dabei aber auch die Frage, inwieweit der Mensch sich dieser Unumstößlichkeit fügen kann und zu fügen hat und wie sehr er seinen Gefühlen gehorchen bzw. folgen darf. Ursprünglich waren die "Wahlverwandtschaften" von Goethe lediglich als Novelle konzipiert, geworden ist es dann schlussendlich ein sehr umfangreicher Roman, an dem der Dichterfürst bis zur vollständigen Fertigstellung immerhin fast zwei Jahre arbeitete. Und zwischen den Zeilen gelesen stellt es ein bis heute sehr herausforderndes und lesenswertes Romanwerk dar.

Durch die geschickte Regie und eine dem Werk gebührende Bearbeitung von Chris Pichler, die in dieser Produktion auch die Rolle der Charlotte übernommen hat, ist ein sehr beeindruckendes Hörstück entstanden, das hoffentlich vielen Hörerinnen und Hörern Lust macht, auch den Originaltext nachzulesen. Immerhin sind in den "Wahlverwandtschaften" auch reichlich autobiografische Bezüge auf Goethes eigene Biografie vorhanden. Und nach wie vor verblüfft es den Leser, wie radikal Goethe in seiner Zeit an das Thema herangegangen ist. Nicht zuletzt deshalb gilt dieses Werk als eines der Aushängeschilder der sogenannten "Weimarer Klassik".

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