"You're a European"
Briefe aus Amerika
Peter Rosei reiste 2007 durch Amerika. Anlässlich der Angelobung des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten ein Blick zurück mit Roseis Reisebeschreibungen und Reflexionen über das Land der Gegensätze und die Paradoxe der amerikanischen Gesellschaft.
8. April 2017, 21:58
Unlängst schrieb ich einem Freund: "Ja, es sieht sehr danach aus, als hätten die Amerikaner genug von Bush. Die Kongresswahlen hat die Grand Old Party ja verloren. Es ist aber klar, dass das Land trotzdem versackt bleiben wird - zumindest noch für längere Zeit - in seine, durch unsere Augen gesehen, im Grund weltfremde Größenvorstellung von sich selber, in sein, manchmal geradezu kindliches Beharren darauf, hierzulande, in den USA, sei doch alles am Größten und Schönsten.
In einem so weitläufigen Gebilde, wie es diese Gesellschaft hier darstellt, gibt es natürlich alles Mögliche, auch das Gegensätzlichste zur gleichen Zeit. Es kommt da auch zu den unwahrscheinlichsten Allianzen, das heißt, es passiert, dass Kräfte in einer Sache in dieselbe Richtung ziehen, die sonst aber überhaupt nichts miteinander gemeinsam haben. Was aber fast alle Gruppen verbindet", schrieb ich weiter, "ist das Anhängen an einer Rhetorik, an der Phrase als solcher, was in Europa weitgehend erledigt wurde durch die Erfahrung von Faschismus und Stalinismus.
Bush ist ja auch der Typ des Sonntagsredners, der ehrliche Kerl, dem der Mund übergeht von dem, was das Herz voll ist."
Viele Arbeitslose
"Hier, in Michigan und im nordwestlichen Ohio, sind die Autohersteller Ford, General Motors und Chrysler die großen Arbeitgeber. Voriges Frühjahr hat General Motors mit Werkschließungen und der Entlassung von Arbeitern begonnen. Im Herbst ist Ford nachgefolgt: Die Entlassungen zählten nach Zehntausenden. Wie es um Chrysler steht, weiß jedes Kind. Schon hört man, dass infolge niedrigerer Einnahmen aus der Lohnsteuer - arbeitslose oder frühpensionierte Arbeiter zahlen keine Steuern - die ohnehin schon wackligen Budgets der Städte und Gemeinden ins Trudeln gekommen sind. Es wird spekuliert, ob man nicht auch die Grundschulen privatisieren sollte, weil kein oder zu wenig Geld zum Betrieb von öffentlichen Schulen da ist. Was das zur Folge hat, kann man in den Vororten von Detroit oder Chicago bereits studieren: ein Verkommen in Suff und Drogen, kombiniert mit Prostitution und Bandenverbrechen.
Eine Dame sagt, ein wenig genervt, zu mir: 'Wenn Sie durch dieses Suburbien fahren, sehen Sie - das Problem ist riesig! Das Problem ist gewaltig! - Und ich sehe auch, ehrlich gestanden', fährt sie mit leiser Ironie, aber doch kaum beunruhigt und eigentlich fröhlich fort, 'ich sehe auch weit und breit keinen, der sich darum annehmen, der die Sache anpacken würde.' Tatsächlich: Was am meisten auffällt - dem Europäer nämlich, ist, dass es den Bürgern hier nicht einfällt, und nicht einmal im Traum, Vorgänge wie etwa diese Massenentlassungen bei Ford mit politischen Vorstellungen oder gar Forderungen in Beziehung zu setzen. Einerseits muss jeder amtierende Präsident - und also auch Bush - zusehen, dass die Ökonomie floriert, dass die Leute Arbeit haben und sich was kaufen können - so, in diesem vagen Sinn, sind Politik und Markt im Kopf des Amerikaners verknüpft. Doch andererseits...
Eine Welt ohne Politik. Eine Welt der reinen Phänomene und der 'Schicksale'. Hier, in diesem Umstand hat auch die Ästhetik Hollywoods ihre eigentlichen Wurzeln.
Der Kleinbürger ist der verbreitetste Typ: Man wohnt in einem Haus mit einem kleinen Garten, samt Garage, geht gerne einkaufen, freut sich an seinen Kindern und Verwandten. Sonntags wird zum Gottesdienst gefahren, in die jeweilige Kirche. (Es gibt unendlich viele Kirchen in Amerika.) Nachmittags Rasen mähen - oder es kommen Bekannte vorbei, es wird gegrillt, oder man schaut sich gemeinsam ein Footballmatch an."
Immense Verschuldung
"Und dann wieder gehst du am Loop in Chicago die Wabash Street herunter, und all die teuren Läden sind voll von Kunden, die Anwälte und Broker kreuzen in ihren typischen, dunkel gehaltenen Anzügen über die Fahrbahnen, von einem Bankinstitut ins andere, von einem Bürohausturm zum nächsten, und ringsum siehst du neue, und immer neue Wolkenkratzer und Skyrise-Buildings aufsprießen wie kolossale Spargel. Und alles prosperiert und boomt und wird prall und praller - wie ein Kürbis, wie eine Fruchtblase, die schwillt und schwillt. Was sehr für die Amerikaner spricht, ist ihr ungebrochener und wohl auch kaum zu brechender Optimismus.
Der Kellner im Lokal sagt 'guys' zu uns - was so viel wie 'Jungs' bedeutet: 'Alles okay, Jungs?!' - Er tut das mit der Selbstverständlichkeit eines, dem noch nie der Gedanke gekommen ist, die Menschen könnten nicht gleich sein. Hier sind alle gleich, denkt er, und er macht sich dabei nicht klar, wie leergeblasen, ausgehöhlt und eitel diese so genannte Gleichheit doch ist. Erzählst du in Arizona oder, sagen wir, in Kalifornien jemandem von den Schwierigkeiten der Autoindustrie rund um den Lake Erie, dann wird dich der Mann fast sicher ganz entgeistert anschauen und sich, irgendwo drinnen, eher befremdet fragen: 'Sorgen hat der Mensch?'
Ja, es gibt eine hemdsärmelige Fröhlichkeit oder Freiheit hier, eine aufgekratzte Munterkeit, die sich etwa sagt: Das werden wir gleich haben! Na, ganz so schlimm wird's doch wohl nicht sein. Da waren wir schon in ganz anderen Lagen! Uns fällt schon gleich was ein! Just a moment, please.
Die Eckdaten sehen im Moment so aus: Die USA hat ein Außenhandelsdefizit, das nach unvorstellbaren Billionen zählt, Tendenz steigend; sie hat ein Budgetdefizit in Riesenhöhe, Tendenz steigend. Dazu kommt, dass die privaten Haushalte ebenfalls hochverschuldet sind. Die Amerikaner machen also Schulden, um ihre ausufernden Importe zu finanzieren. Sie machen Schulden, um ihre öffentlichen Haushalte zu finanzieren. Und sie machen auch jeder einzeln für sich Schulden, um sich selber zu finanzieren. Das Budgetdefizit, insbesondere aber das Außenhandelsdefizit, ist, mit europäischem Maßstab gemessen, tatsächlich bedrohlich. Es ist vorstellbar, dass eine Krise der US-Ökonomie auch die europäischen Wirtschaften leicht mit hinunterreißen könnte. Der Handlungsspielraum der Amerikaner ist infolge der Verschuldung auf allen Ebenen eher gering - selbst wenn man wieder die schiere Größe und den Ressourcenreichtum des Landes in Betracht zieht. Trotzdem: Am Ende sind die Amerikaner noch lang nicht. Amerika ist unendlich reich.
Die Amerikaner beruhigen sich auch damit, dass die Ausländer, die sich über die von ihnen gewährten Kredite in amerikanische Wertpapiere und Schatzscheine einkaufen - dass die doch nicht ihre Forderungen plötzlich fällig stellen werden: Da würden sie doch ihre Hoffnungen, mit den von ihnen gekauften US-Wertpapieren selber schnell reich werden zu können, auch gleich mit aufgeben! Bislang funktioniert's ja."
Besser den Expressway nehmen
"Weißt du: Es gibt Stimmungen - ich will sie heute einmal nicht analysieren - da bist du einfach obenauf, sitzt fröhlich in deinem Auto und singst laut mit dem Radio mit - Eminem oder, wasweißich, Fifty Cent: Be easy - believe me - sure make you high, baby - gimme love - love - is that what you want? - come give me love...
Eight-Mile-Road in Detroit etwa schaut wie eine Straße im zerbombten Beirut aus. (Hier herrscht ja auch Bürgerkrieg, allerdings ein unerklärter.) Es gibt nicht wenige Viertel in L. A., in Chicago, in Baltimore, in Philadelphia, in Cleveland - da nimmst du nur den Expressway, nicht die gewöhnliche Straße, weißt du: Es ist einfach besser so.
Es ist eines der Paradoxe der amerikanischen Gesellschaft, dass - ich kenne kein Land, in dem die Freud'sche Analyse, die Psychoanalyse so weite Verbreitung gefunden hat - dass gleichzeitig die Masse der Gesellschaft in einer gleichsam vorfreudianischen Welt lebt, insbesondere die Vorstellung von der Ambivalenz nicht kennt - ja geradezu aggressiv und angeekelt sich von einer solchen Vorstellung, mag sie auch nur andeutungs- und ahnungsweise auftauchen, abwendet.
Hier ist man ein ganzer Kerl. Ein ehrlicher Mann. Ein aufrechter Mensch.
War on terror: Mein Gott, denke ich manchmal, wenn ich irgendwo herumfahre, eine der verschlafenen Straßen in irgendeiner Kleinstadt hinuntergehe: Was geht die Leute hier der Krieg gegen den Terror an?"
Ein Land im Krieg
"Langsam wird es Herbst, und aus dem tiefblauen Himmel regnen die bunt verfärbten Blätter herunter. Absolute Windstille. Beinah dreißig Grad im Schatten. In der Ebene draußen farbstrahlende, kleine Wäldchen. Mähdrescher, die jetzt die Sojabohnen ernten, ziehen lange Staubfahnen hinter sich her. Es sieht aus wie im Krieg.
Man darf nie vergessen, dass Amerika ein Land im Krieg ist. Das stellt alles auf den Kopf, denke ich, und macht die Leute hier noch anfälliger für Rituale, in die sie ohnehin von Kindesbeinen an eingeübt sind. Amerikanische Flaggen wehen überall. Die Hymne wird täglich in der Schule gesungen. Selbst auf dem Footballfeld, vor dem Match, stehen die Leute da, Hand auf dem Herzen, und singen. Sind die Felder einmal abgeerntet, sieht das Land unendlich leer und kahl aus, die meist weiß gestrichen Farmhäuser, die rot angestrichenen Scheunen gleichen dann Archen, die lose und haltlos dahin treiben.
Auf dem Highway begegnest du tausend Meilen weiter doch immer wieder nur dir selber: Du bist eine Schleife gefahren, Freund."
Farmen. Straßen. Felder. Städte.
"Was wolltest du noch sagen? - Dass die Amerikaner ein melodramatisches Verhältnis zu ihrem Land unterhalten? - Sie glauben in ihrer Mehrheit ja tatsächlich, das Amerika das Land ist, in dem die Geschicke der Welt entschieden werden - die längste Zeit schon; und jetzt erst recht.
Rund um viele der Farmen, Trailerhomes, in denen, fast wie versteckt, die mexikanischen Erntearbeiter hausen: Man kriegt kaum einen von ihnen jemals leibhaftig zu sehen. - Farmen. Straßen. Felder. Städte. Industriezonen. Autobahnen. Das Leben zieht dich in seinen Bann. 'So ist das hier - hier in Amerika!'
Was ich als vorläufiges Endergebnis vorfinde, ist ein zwischen die unsichtbaren Gitterstäbe aus Marktmechanismen und Medienmacht eingesperrter Kleinbürger - seine Mitbürger haben ihn dort hingesperrt - rücksichtslos gegen alles, was nicht er selber ist, bestimmt von schrulligen Moralen, auf deren morastigem Grund das ganze Gebilde zu ruhen scheint.
Andererseits wieder: Ich schaue über das Utah-Basin zu Mount Moab und fühle - unwiderstehlich - den glückverheißenden Sog, eine Verheißung, von der ich doch weiß, dass sie uns nicht weiterhelfen kann. - Was haben wir aber sonst?
God bless America!"