Die quirligste indische Metropole
Übereinander, untereinander, nebeneinander
In den Geschäftszentren von Mumbai werden Büromieten verlangt und bezahlt wie in der Londoner Innenstadt. Gleichzeitig lebt etwa die Hälfte der Einwohner Mumbais in Slums. Dennoch sind diese Slums hochkomplexe und teils wohl organisierte Organismen.
8. April 2017, 21:58
Die Essensausträger von Mumbai
Mit Mumbai, dem früheren Bombay, ist das so eine Sache. Wer jemals dort war und, sagen wir, nach Wien zurückkehrt, versteht eine Weile nicht, was die Leute meinen, wenn sie von einem Verkehrsstau sprechen, von verstopften Straßen oder von durchgeknallten Autofahrern. Wien scheint menschenleer im Vergleich zu Mumbai. Keine Bettler, keine Kinder, keine Autos, keine Farben, kein Leben, kein Lärm.
In Mumbai, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Maharashtra, drängen sich knapp 14 Millionen Menschen auf einer Halbinsel, die in ihrer Form Manhattan gleicht. Im Großraum Mumbai, der "Metropolregion", leben an die 21 Millionen. Und weil die Stadt von drei Seiten vom Meer umgeben ist, kann sie, wenn sie wächst, nurmehr in die Höhe wachsen. In Wien leben 4.000 Einwohner auf einem Quadratkilometer. In Mumbai sind es 30.000, acht Mal so viele.
Stadt der Gleichzeitigkeit
Mumbai, das mit Bollywood auch die größte Filmindustrie der Welt beherbergt, ist die quirligste der indischen Metropolen. Delhi, der Regierungssitz, wirkt dagegen - nach indischen Maßstäben - vergleichsweise geordnet. Allein Kalkutta, das seit einiger Zeit wiederum Kolkata heißt und das Mahatma Gandhi dereinst die "Pestbeule Indiens" nannte, kann Mumbai das Wasser reichen. Als internationales Finanz- und Handelszentrum ist Mumbai allerdings alleiniger Spitzenreiter.
Mumbai ist die Stadt der Gleichzeitigkeit. Die Taxis haben mechanische Zähler, die in den fünfziger Jahren her- und seither nicht mehr umgestellt wurden. Im Inneren der Autos gibt es Tabellen, die einem sagen, dass der Preis aus, sagen wir, 1955, heute mit 22 multipliziert werden muss.
In den Geschäftszentren von Mumbai werden heute Büromieten und Quadratmeterpreise verlangt und bezahlt wie in der City von London. Gleichzeitig lebt etwa die Hälfte der Einwohner in Slums. Übereinander, untereinander, nebeneinander. Häufig ohne Wasser, ohne Toiletten, ohne Strom. Dennoch sind die Slums von Mumbai hochkomplexe und zum Teil wohl organisierte Organismen.
In einem großen, mehr als hundert-seitigen Essay versucht der indisch-stämmige Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul, der Funktionsweise und den inneren Gesetzen Mumbais auf die Spur zu kommen. Er beschreibt Menschen, die täglich zwei Stunden mit Vorortezügen zur Arbeit fahren. Auf dem Rückweg, ebenfalls zwei Stunden, schneiden und putzen Frauen im Zug Gemüse, um die Zeit zu nutzen und das Abendessen vorzubereiten. Er schildert mit Staunen ein Neben- und Durcheinander, das einer geheimnisvollen und völlig undurchschaubaren Logik folgt.
Slum im begehrten Wohngebiet
Mittlerweile stehen aber auch die Wohngebiete der Ärmsten zur Disposition. Der am dichtest bevölkerte Slum, Dharavi, hat das Pech, mitten im Stadtzentrum zu liegen. Also im teuersten und begehrtesten Gebiet der Stadt. Im Zuge eines Milliarden-Dollar-Projektes soll der "Slum in bester Lage" nun geräumt und mit Hilfe internationaler Investoren zu einem Wohn- und Geschäftsviertel erster Güte werden.
Hunderttausende sind davon unmittelbar betroffen. Schon hagelt es Proteste. Demonstrationen werden veranstaltet, die Slumbewohner organisieren sich. So schreibt die Journalistin Ute Woltron in einer Reportage für den "Standard":
Dharavi ist gewissermaßen auch die reinigende Leber der Stadt, die im Mist ersticken würde, gäbe es nicht die zahllosen Müllsammler, die Mumbai nach Abfällen durchkämmen. Aluminium, Eisen, Gummi, Kunststoff - alles wird aufgeklaubt, eingesammelt, nach Dharavi gekarrt, wiederverwertet oder verkauft.
Ein Teil der Slumbewohner soll in das sumpfige Hinterland im Norden umgesiedelt werden. Viele, sehr viele, werden auf der Straße landen.
Lebendige Stadt
Mumbai - alle künftigen Reisenden seien gewarnt - kann alles, was wir über die Konstruktion der menschlichen Existenz zu wissen meinen, ernsthaft gefährden. Wer jemals nachts mit einem löchrigen Taxi durch die Stadt gefahren ist, hält plötzlich alles für möglich. Tausende Menschen schlafen in Müllsäcken, schöpfen stinkendes Wasser aus Tümpeln mit flachen Tellern ab. Dürre Hunde bewachen knurrend ihr Territorium, kolonialer Glanz und neuer Reichtum stehen neben pittoreskem Verfall. Und dennoch - das muss gerade nach den verheerenden Terroranschlägen vom November des vergangenen Jahres gesagt werden - Mumbai funktioniert. Irgendwie. Und ist in seinem Selbstbewusstsein kaum zu erschüttern.
In Istanbul, dieser ebenfalls ausgesprochen stolzen und prächtigen Stadt, sind wir unlängst auf einer City-Tour im Doppeldecker neben einer lautstarken und nervenden indischen Familie gelandet. Das Oberhaupt hatte nur verächtliche Kommentare übrig für die Stadt am Bosporus. "It’s nothing compared to Mumbai" meinte der Mann. Alles alt, keine Hochhäuser. Kaum Menschen auf der Straße, kein Verkehr, kein Lärm, keine Farben, kein Leben. Nichts. Irgendwie haben wir verstanden was er meinte. Irgendwie.
Buch-Tipp
V.S.Naipaul, "Indien. Land des Aufruhrs", aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Enderwitz, Claassen