Erzählungen von Tadeusz Borowski
Bei uns in Auschwitz
Kennt man sie nicht, kann man nicht über Auschwitz sprechen: die Erzählungen des polnischen Autors Tadeusz Borowski, der als einer der ersten den Holocaust literarisch verarbeitet hat. Und doch das Überleben nicht überlebt hat.
8. April 2017, 21:58
"Vom Fenster aus wirkt die Landschaft harmlos, das Kremo ist nicht zu sehen. Die Leute sind in Auschwitz verliebt, stolz sagen sie: 'Bei uns in Auschwitz...'" Das Kremo ist im Lager-Jargon das Krematorium, so wie die Millionäre die Häftlinge mit einer hohen Nummer bedeuten, die erst kurz im Lager sind. Es sind Ausdrücke wie diese, die einem beim Lesen der Erzählungen von Tadeusz Borowski den Atem stocken lassen. Oder die folgende Beschreibung eines Fußballspiels:
Ich ging mit dem Ball zurück und gab ihn zur Ecke. Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast.
Mitleidlosigkeit und Überlebenskampf
Die kalte Gleichgültigkeit der Todesmaschinerie wird hier nicht einfach beschrieben, sondern sie ist in jedem Satz präsent. Vor allem im zynischen Lachen über die, denen es schlechter geht und die zu Tode kommen. Beim Anblick eines alten Mannes, der sich bemüht, mit den anderen Schritt zu halten, konstatiert der Erzähler:
Man schmunzelt belustigt beim Anblick eines Menschen, der es auf dem Weg zur Gaskammer so eilig hat.
Hier gibt es keinen Schlupfwinkel für Einfühlung, nie wird eine Heldenperspektive aufgebaut, denn dem Ich, das hier erzählt, geht es ums nackte Überleben.
Dieses Ich heißt Tadeusz oder Tadek, und weil auch immer wieder Details der Lebensumstände des Autors Tadeusz Borowski aufblitzen, liegt es nahe, alles eins zu eins autobiografisch zu lesen. Und das ist wohl auch das Kalkül des Autors, denn so ist kein Entkommen aus der gnadenlosen Mitleidlosigkeit, aus der die Welt der Konzentrationslager hier entsteht.
Illusionsloser Blick auf das Lagerleben
"Ein Volk, ein Reich, ein Führer - und vier Krematorien. In Auschwitz wird es aber bald sechzehn Krematorien geben, die täglich fünfzigtausend verbrennen können", heißt es in der Erzählung mit dem Titel "Bitte, die Herrschaften zum Gas". Auschwitz wird hier so beschrieben:
Es ist eine idyllische Rampe, wie man sie von abgelegenen Provinzbahnhöfen kennt. Ein kleiner kiesbestreuter Platz, eingerahmt vom Grün hoher Bäume. Etwas abseits, an der Straße, duckt sich eine winzige Holzbaracke, hässlicher und schludriger als die hässlichste und schludrigste Bahnhofsbude, und dahinter große Stapel Schienen, Eisenbahnschwellen, Massen von Brettern, Barackenteile, Ziegel, Steine, Brunnenringe. Von hier wird alles nach Birkenau gebracht: Material zum Ausbau des Lagers und Menschen für das Gas. Ein gewöhnlicher Arbeitstag: Lastwagen fahren vor und laden Bretter, Zement und Menschen...
Das Entsetzen, das dieser Text auslöst, kommt aber nicht nur aus der lapidaren, teilnahmslosen Beschreibung, sondern vor allem davon, wie der Erzähler und das Kommando, dem er angehört, auf die geschundenen Menschen reagieren, die sie ins Gas treiben müssen: Sie freuen sich offen über den "reichen Transport", den sie plündern können; so steigen ihre Überlebenschancen. Tote Säuglinge tragen sie aus dem Waggon "wie Hühner zwei in jeder Hand". Sie mokieren sich über ihre schwere Arbeit, und unverhohlen bricht ihr Hass auf die Opfer aus, besonders auf eine Frau, die ihr Kind verleugnet, weil sie selbst überleben will.
Überlebenshoffnung
Täter und Opfer - diese Unterscheidung verschwimmt in Borowskis Erzählungen. Gerade das ist das schmerzhaft Irritierende daran und zeigt präzise, wie der Nationalsozialismus auch die Opfer zu Tätern gemacht hat. In den entmenschten Umständen des Lagers zählt nur mehr das eigene Überleben, dafür tut jeder alles und wird zum gefügigen Komplizen des Terrors. Imre Kertész, der mehrfach auf Borowski hingewiesen hat, weiß, was der Überlebenstrieb aus einem Menschen machen kann. "Wir sind ... unter allen vorstellbaren Bedingungen lebensfähige – zu allem fähige Wesen: Gerade darin besteht das Problem", schreibt Kertész im "Galeerentagebuch".
Auch bei Borowski erscheint die Überlebenshoffnung als die größte Gefahr:
Gerade die Hoffnung lässt die Menschen apathisch in die Gaskammer gehen, lässt sie vor dem Aufstand zurückscheuen, lässt sie in Apathie versinken. Gerade die Hoffnung zerreißt die Familienbande, lässt Mütter ihre Kinder verstoßen, lässt Frauen sich für ein Stück Brot verkaufen und bringt Männer dazu, andere zu töten.
Dinge beim Namen nennen
An ganz wenigen Stellen schimmert auch bei Borowski Hoffnung durch. So heißt es in der ersten Erzählung, die als Brief an die Geliebte geschrieben ist: "Aber wir sehnen uns nach einer Welt, in der es Nächstenliebe gibt, Friede vor den Menschen und Ruhe vor den Instinkten." Doch da ist noch der Lagerkomplex, beschrieben als "Komplex des Mützeziehens, ... des untätigen Blicks auf die Geschlagenen und Ermordeten, ... der Angst vor dem Lager." Und der Erzähler fährt fort: "Ich fürchte jedoch, dass dieser Komplex uns ewig belasten wird. Ich weiß nicht, ob wir es überleben werden, aber ich wünschte, wir würden einmal die Dinge beim Namen nennen können, wie es mutige Menschen tun."
Der 1922 in der heutigen Ukraine geborene Tadeusz Borowski war einer der ersten, der den Holocaust literarisch verarbeitet hat. Und auch einer der ersten in der langen Reihe derer, die das Überleben nicht überlebt haben: Mit 28 Jahren hat er sich 1951 das Leben genommen. Die provokante Emotionslosigkeit seiner Erzählungen trug ihm den Vorwurf des Zynismus und einer nihilistischen Weltsicht ein.
Heute, nach der Lektüre von Edgar Hilsenraths Roman "Nacht", Albert Drachs "Unsentimentaler Reise" oder Aleksandar Tišmas "Kapo", ist Borowskis Erzählweise nicht nur aus der Perspektive der Überlebenden allzu verständlich – Zynismus ist ja eine Methode, um sich vor den Gefühlen zu retten –, sondern es zeigt sich, dass die kalte Distanz den Leser viel nachhaltiger in die Auschwitz-Welt katapultiert als jede einfühlsam daherkommende Erzählweise, die Identifikationen suggeriert; und sie zeigt deutlicher, was in Auschwitz passiert ist, als jede hilflose Humanitäts-Rhetorik.
Kein Tagebuch
Vor allem aber hat Borowski wohl als erster aufgeräumt mit dem Mythos von den guten Opfern, der oft etwas Verlogenes, wenn nicht etwas Zynisches an sich hat: Warum sollen unmenschliche Qualen bessere Menschen erzeugen? Ruth Klüger hat diese Un-Logik ad absurdum geführt. Ihr Buch "weiter leben. Eine Jugend" legt freilich auch die Gefahr einer falschen Interpretation offen, der man bei der Borowski-Lektüre erliegen könnte: dem Generalverdacht, jeder Überlebende habe mehrere Tote auf dem Gewissen. Diesem Missverständnis sitzt man aber nur auf, wenn man diese Erzählungen, weil sie in Ich-Form geschrieben sind, wie Tagebücher liest. Am Beginn des letzten Zyklus "Die steinerne Welt" verwehrt sich Borowski ausdrücklich dagegen.
Es ist sehr zu begrüßen, dass Borowskis Erzählungen nach etlichen Jahren nun in neuer Übersetzung wieder zugänglich sind. Nicht alle sind übrigens in der Welt der Konzentrationslager angesiedelt, auch das besetzte Warschau oder die heranrückenden Amerikaner, die das Lager auflösen, aber vorher noch ein Mädchen erschießen, werden ebenso illusionslos in den Blick genommen. Und man staunt immer wieder, wie viele Themen Borowski klar anspricht, die erst sehr viel später öffentlich diskutiert wurden: zum Beispiel die großen Profite deutscher Firmen mit den Konzentrationslagern.
Was dem Buch fehlt, ist ein Nachwort zu dieser Neuübersetzung, vor allem aber zum Autor und seiner Biografie, seinem Stellenwert im heutigen Polen und seiner Vereinnahmung durch das kommunistische Regime. Ein Essay über den Autor wäre diesem Buch ebenso dringend zu wünschen wie ein sorgfältiger korrigierter Satz mit weniger Fehlern. Denn lesen muss man es unbedingt. Kennt man es nicht, kann man nicht über Auschwitz sprechen.
Hör-Tipp
Hörspiel-Galerie, Samstag, 30.Jänner 2010, 14:00 Uhr
Buch-Tipp
Tadeusz Borowski, "Bei uns in Auschwitz", Erzählungen, aus dem Polnischen übersetzt von Friedrich Griese, Schöffling Verlag
Link
Schöffling - Bei uns in Auschwitz