HIV greift nicht nur das Immunsystem an
Neuro-Aids: Die heimliche Invasion im Gehirn
Schon bald nach einer Infektion wandert das HI-Virus auch ins Gehirn und löst dort zunächst winzige, nicht diagnostizierbare Veränderungen aus. Mit fortschreitender Dauer der Krankheit führen diese Veränderungen jedoch zu schwerwiegenden Folgen.
8. April 2017, 21:58
Es schien eine beispiellose Erfolgsstory zu sein: Mit der Entwicklung der hochaktiven antiretroviralen Therapie verwandelte sich HIV/Aids von einer tödlichen in eine beherrschbare Erkrankung. Doch der Erfolg hat Lücken. Denn die meisten der antiretroviralen Medikamente können nicht ins Gehirn gelangen.
Und auch das Gehirn stellt einen Ansatzpunkt für das HI-Virus dar. Dieser Tatsache wurde lange Zeit keine besondere Beachtung geschenkt. Die Betroffenen starben meist sehr schnell an Aids. Die Folgen, die das Virus für das Gehirn und das zentrale Nervensystem hat, wurden erst relevant, als HIV/Aids beherrschbar wurde.
Kein Todesurteil mehr
Mittlerweile stellt eine HIV-Infektion kein unmittelbares Todesurteil mehr dar. Die Betroffenen können, eine wirksame antiretrovirale Therapie vorausgesetzt, viele Jahre lang verhältnismäßig uneingeschränkt leben.
Allerdings wurde mit dieser Behandlung auch offenbar, dass und welche Auswirkungen HIV auf Gehirn und Zentralnervensystem hat. Das Spektrum reicht von Depressionen über periphere Nervenkrankheiten bis hin zur HIV-Demenz, die zu den gefürchtetsten Auswirkungen einer HIV-Infektion gehört.
Überschießende Immunreaktion
2004 wurde zudem erstmals über ein besonders erschreckendes Krankheitsbild berichtet, das die Folge einer antiretroviralen Therapie ist und wenn es unbehandelt bleibt, nicht nur irreversible Schäden im Gehirn anrichtet, sondern auch rasch zum Tode führen kann. Der Name des Syndroms lautet Immune Reconstitution Inflammatory Syndrom, grob übersetzt: Autoimmunreaktion auf das wieder erstarkte Immunsystem.
Dieses Syndrom tritt vor allem bei Menschen auf, die eine hohe Viruslast haben und noch nie eine antiretrovirale Therapie erhalten haben. Die Medikamente, die zur Eindämmung der Viruslast im Blut eingesetzt werden, kurbeln das Immunsystem derart an, dass es zu überschießenden Reaktionen kommt. Die Folge: Das Immunsystem bekämpft nicht mehr nur das Virus sondern greift den Körper an. Eine Behandlung dieses, als IRIS, bezeichneten Syndroms ist schwierig und muss in jedem Einzelfall auf den Patienten abgestimmt werden.
Depressionen unbedingt behandeln
Depressionen sind ein extrem häufiges Problem bei HIV-Infektionen. Etwa 50 Prozent aller Betroffenen entwickeln eine Depression, wenn sie die Diagnose HIV-Infektion erfahren, zwei bis drei Prozent begehen einen Suizidversuch. Aber auch das Virus selbst kann Depressionen auslösen, weil es die Gehirnchemie verändert. Und nicht zuletzt kann auch die hochaktive antiretrovirale Therapie Depressionen auslösen.
Eine Behandlung einer HIV-assoziierten Depression ist unbedingt notwendig, denn ein HIV-positiver Mensch, der keinen Sinn mehr in seinem Leben sieht, bricht sehr häufig die antiretrovirale Therapie ab, was zu einem Wiedererstarken des Virus und zu opportunistischen Infektionen führen kann.
Wenn die Füße kribbeln und brennen
Auch die peripheren Nerven und die Muskulatur können vom HI-Virus negativ beeinflusst werden: So kann es zu Missempfindungen an den Füßen und Beinen, wie Brennen, Stechen, Hitze oder Kälte kommen, die von den Betroffenen als höchst unangenehm empfunden werden. Die Erkrankung wird als HIV-assoziierte Polyneuropathie bezeichnet.
Auch dieses Störungsbild wird nicht nur vom Virus, sondern kann auch von der dagegen eingesetzten Medikation ausgelöst werden. Die einzige Möglichkeit einer Behandlung ist dann eine Umstellung der antiretroviralen Therapie, um möglichst nur solche Medikamente einnehmen zu müssen, die diese Nebenwirkung nicht aufweisen.
Gefürchtete HIV-Demenz
Die HIV-Demenz gilt als besonders gefürchtetes Krankheitsbild. Diese Erkrankung kann bei HIV-positiven Menschen in jedem Lebensalter auftreten und führt rasch zur Zerstörung vor allem jener Bereiche im Gehirn, die für die höheren Hirnleistungen verantwortlich sind.
Um das Gehirn und das Zentralnervensystem vor den zerstörerischen Auswirkungen des HI-Virus zu schützen, müssen die verabreichten antiretroviralen Medikamente die Blut-Hirnschranke überwinden. Diese physiologische Schranke besteht aus Epithelzellen, die auch die innerste Schicht der Blutgefäße bilden. Nur eine kleine Gruppe antiretroviraler Medikamente ist imstande, über die Blut-Hirnschranke ins Gehirn zu gelangen, um das Virus auch dort an der Replikation zu hindern.
Blut-Hirnschranke überwinden
HIV-Patientinnen und -Patienten erhalten meist eine Dreifachkombinationstherapie, bei der jedes Medikament das Virus auf eine Art und Weise bekämpft. Um auch die negativen Auswirkungen des HI-Virus im Gehirn unter Kontrolle zu halten, müssen die Betroffenen genau überwacht und häufig untersucht werden.
Die Behandlung mit Medikamenten, die die Vermehrung des Virus nicht nur im Blut, sondern auch im Gehirn verhindern, ist vor allem dann wichtig, wenn bereits Symptome wie etwa Aufmerksamkeits- oder Merkstörungen vorliegen.
Text: Sabine Fisch