Zwischen Tradition und Patriotismus
Die Musikszene Georgiens
Ein Blick über den Tellerrand: Die georgische Festtafel "Supra" unter der Leitung des Tischleiters wird dirigiert wie ein Orchester, Jugendliche tanzen zu traditionellen Klängen und in jedem Haushalt steht ein Klavier - aber auch eine Karaoke-Anlage.
8. April 2017, 21:58
Die traditionelle georgische Musik ist polyphon - also mehrstimmig, definiert die Musikwissenschaftlerin Katharina Stadler. Stimmführung und Harmonik dieses Gesangs sind weltweit einzigartig. Die georgische Musik wurde von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Über die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Polyphonie herrscht allerdings Uneinigkeit.
Georgien bezeichnet sich selbst als Teil von Europa und nicht zu Asien gehörend. Bedingt durch die Seidenstraße, deren Hauptroute das Mittelmeer mit Ostasien verbindet, gibt es aber Einflüsse von beiden Kontinenten, meint Katharina Stadler. Ihr Forschungsschwerpunkt ist das spezifisch Georgische in der zeitgenössischen Musikproduktion. Sowohl der polyphone Gesang, als auch traditionelle Instrumente werden in Musikproduktionen von Pop bis Klassik verwendet. Mit Weltmusik hat das aber nichts zu tun.
Entstanden ist "Tbiliso" 1957, noch in Zeiten der Sowjetunion. Das Lied symbolisiert ein Georgien des Weins und des Sommers und in Tiflis, der Hauptstadt, kann es beinahe jeder pfeifen oder singen, man hört es aus dem TV oder als Handyklingelton. Überhaupt ist Musik und Musikerziehung omnipräsent in Tiflis - wie im Kindergarten an der Agmaschenebeli-Straße.
Kindergarten
Bereits im Kleinkindalter hat traditionelle Volksmusik einen hohen Stellenwert, erzählt die Musiklehrerin Ia Gergaouli. Zweimal in der Woche wird im Kindergarten Musik unterrichtet: Es wird getanzt und gesungen. Viele der Kinder sind bereits ab dem Alter von drei Jahren in einer Volkstanzgruppe oder lernen Klavierspielen, was in Georgien einen hohen Stellenwert hat. Beinahe in jedem Haushalt steht zumindest ein Pianino und es gibt eine Vielzahl an hochbegabten Schülerinnen und Schülern.
Im Kindergarten werden die Kinder auf eine mögliche Musikerkarriere vorbereitet. Die vierjährige Annano Chichladze tanzt in einer Volkstanzgruppe. Sie berichtet aufgeregt von einem besonderen Erlebnis: Annano Chichladze war zu Gast in der TV-Kindersendung "Babilina". Sie erzählt, dass dort ganz andere Lieder gesungen werden als im Kindergarten.
Kinderstar
Auch die in Wien lebende Pianistin Ketevan Sepashvili war bereits in Kindertagen ein Musik-Star in Georgien. Sie begann schon vor Vollendung des zweiten Lebensjahres Melodien aus der georgischen Volksmusik auf dem Klavier nachzuspielen. Das sogenannte "Bärenlied" spielte Ketevan Sepashvili als vierjährige im Radio, erinnert sich ihre Mutter. Beim Essen schildert diese auch amüsiert, wie die Pianistin, 2001 erhielt sie den Titel "best georgian performer", im Jahr 1991 während des Unabhängigkeitskrieges bei Kugelhagel durch die Straßen von Tbilisi zum Musikunterricht an die Paliashvili-Schule für musikalisch Hochbegabte schlenderte. Ketevan, auch kurz "Keti" genannt, stimmt während der Erzählung eine russische Romanze an. Ihre Eltern mögen russische Musik nicht besonders gerne.
Ketevan Sepashvili zählt in Georgien zur Pianisten-Elite. Die Virtuosin Ketevan Sepashvili veranstaltete im Dezember 2009 ein Konzert in einem desolaten Saal in Tbilisi. Die quirlige Musikerin bezeichnet es als "Punkattitude", dort ein Konzert aufzuführen. Auf dem Programm standen Haydnsonaten, "Kreislerianer" von Schuhmann und Etüden von Rachmaninow.
Kritik während des Konzerts
Das Klavier entsprach nicht den Standards die Ketevan Sepashvili von ihren internationalen Konzerten gewohnt ist. Und auch sonst war vieles anders als in einem klassischen Musikumfeld üblich: Während des Konzerts läuteten ständig Mobiltelefone und das Publikum unterhielt sich lautstark über gespielte Phrasen und Interpretationen. Das sei immer so, erzählt die Pianistin: Das Publikum kann sich mit Kritik nicht bis nach dem Konzert zurückhalten.
Ketevan Sepashvilis Konzert war als Benefizkonzert geplant. Der Pianistin war es ein Anliegen auf den desolaten Zustand ihrer ehemaligen Musikschule aufmerksam zu machen - der Paliashvili-Schule für musikalisch Hochbegabte in Tiflis, benannt nach dem georgischen Komponisten Sachari Petrowitsch Paliaschwili, der klassische europäische Musik mit georgischer Volksmusik kombinierte.
Kaputte Eliteschule
Um die hochbegabten Schülerinnen ab dem Alter von sechs Jahren zu motivieren, organisierte Ketevan Sepashvilis auch einen Wettbewerb. Die Siegerinnen Ana Gogava und Tako Midelashvili sollen Dezember 2010 in Wien ein Konzert geben. Der Preis mit dreihundert Euro für die ersten Plätze dotiert, bedeutet in Georgien viel Geld. Ketevan Sepashvilis Vater beispielsweise verdient als technischer Ingenieur etwa fünfzig Euro im Monat.
Das ehemalige Schulgebäude wurde 2002 durch ein Erbeben zerstört. Die Paliashvili-Schule teilt sich momentan ein Gebäude mit einer öffentlichen Schule. Es gab zwar immer wieder Bemühungen von Seiten der Politik, mit Unterstützung von anonymen Fördergebern, der Schule ein neues, eigenes Gebäude zur Verfügung zu stellen, aber dies scheiterte schlussendlich immer wieder, erzählt Nino Mamradze, die Direktorin der Schule. Das änderte sich aber wieder nach dem Augustkrieg 2008 mit Russland. Und auch durch die derzeitige Weltwirtschaftskrise sprangen internationale Sponsoren und Fördergeber wieder ab, erklärt die Schuldirektorin.
Die Schülerinnen spielen auf kaputten Instrumenten, sofern diese überhaupt vorhanden sind. Das ist verwunderlich, wenn man die Bedeutung der Schule beachtet. Viele Musikerinnen, die heute zur Weltspitze gehören - wie etwa der Pianist und Klavierpädagoge Rudolf Kehrer - wurden in der Paliashvili-Schule ausgebildet. Nino Mamradze erklärt, wie herausgefunden wird, wer tatsächlich hochbegabt ist auf dem Klavier, mit Streich- und Blasinstrumenten oder aufgrund der Stimme: 1934 wurde die Schule unter Stalin gegründet. Seither ändert sich das Unterrichtskonzept aber nur langsam, so Mamradze.
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