Als Illegaler auf dem Weg nach Europa

Bilal

Der italienische Reporter Fabrizio Gatti hat sich undercover unter Migranten gemischt und war auf einer der berüchtigtsten Transitrouten von Afrika nach Europa unterwegs. Er wollte wissen: Wer sind diese Menschen, die solch lebensgefährlichen Fahrten auf sich nehmen?

"Was erwartest du dir von Italien?"
"Arbeit", sagt sie. "Dort kann man für die gleiche Arbeit wie hier viel mehr Geld verdienen."
"Und warum versuchst du es nicht auf dem Weg durch die Wüste?"
"Bist du verrückt? Nein, auf keinen Fall", sagt sie mit Nachdruck und legt die Hand auf den Mund. "Die Wüste zu durchqueren ist etwas für Männer. Ich hätte zu viel Angst."


Schon in Dakar, dem Ausgangspunkt der Route ins vermeintliche Paradies, findet Fabrizio Gatti überall Menschen wie die 24-jährige Faton. Menschen, die keine andere Chance sehen, dem alltäglichen Elend zu entkommen, als nach Europa zu gehen. Schließlich kennt fast jeder einen Verwandten oder Bekannten, der es in Europa geschafft hat.

Boomende Branche Schlepperwesen

Wenn im Senegal in Dürrezeiten die Ernte ausfällt, fliehen Tausende Familien vom Land an den Rand der Hauptstadt Dakar. Doch dort verschlechtern sich die Lebensbedingungen ebenso von Jahr zu Jahr. Früher basierten 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der frankophonen Länder Afrikas auf dem Reichtum der Elfenbeinküste. Heute ist die Lage auch dort katastrophal. Die einzigen Branchen, die boomen, sind das Waffengeschäft, der Drogenschmuggel und das Schlepperwesen.

Seit Spanien von Marokko verlangt hat, die illegale Einwanderung zu stoppen, führen alle Wege über Tripolis. Fabrizio Gatti, langjähriger Journalist beim "Corriere della Sera", hat schon öfter durch Undercover-Reportagen in Wallraff-Manier Missstände aufgedeckt. Er hat dabei als illegaler Erntehelfer, als Obdachloser, als Gefangener in einer Strafanstalt, sowie im Drogen- und Mafiamilieu unter falschem Namen gelebt und recherchiert. Diesmal kämpft er sich unter härtesten Bedingungen vom Senegal über Mali und Niger nach Lybien durch, um von dort aus übers Meer nach Italien zu gelangen.

Die Fahrt nach Bamako hat 1990 dreißig Stunden gedauert. Heute braucht der Zug mindestens drei Tage für die 1.420 Kilometer. Wie das Meerwasser langsam in den Rumpf eines Schiffes eindringt, bevor es untergeht, so ist auch dieser Rückschritt ein Symptom des allmählichen Versinkens der Titanic Afrika.

Von Hoffnung getrieben

Auf einem alten LKW, der über und über mit Gepäck, Wasserkanistern und knapp 180 Personen überladen ist, geht es von Agadez durch die Wüste Ténéré zur Oase Dirkou. Jeder weiß, falls der Wagen einen irreparablen Schaden hat, bedeutet das für alle ziemlich sicher den Tod.

Während der endlosen Kilometer durch ewig gleiche Sandlandschaften erzählen die Flüchtlinge ihre Lebensgeschichten und die Motive ihrer Odyssee. Fast alle sind bereits von Polizisten oder Soldaten kontrolliert, geschlagen und ausgeraubt worden. Das über Jahre hinweg gesparte Geld für die Überfahrt ist zumeist weg.

Egal ob Moslems oder Christen: was bleibt, ist ihr Glaube an Gott und die Hoffnung, doch noch irgendwie nach Europa zu kommen. Dirkou erweist sich nicht nur als willkommene Gelegenheit, die Wasserkanister aufzufüllen, sondern auch als Sammelbecken unzähliger "Gestrandeter", die aus Geldmangel weder weiter nach Europa, noch zurück in ihre Heimat können.

Dirkou ist ein grüner Streifen jenseits der ockerfarbenen Dünenkette. Entlang einer Geländestufe breitet sich die Oase der Sklaven aus, so weit das Auge reicht. Alles Übrige ist eine Welt aus Sand.

Zeugen unerwünscht

Vor Libyen ist Endstation. Das Einreisevisum wird dem Italiener wenig überraschend verweigert. Gaddafis Staat zu durchqueren, ohne von den Militärs entdeckt zu werden, wäre ohnehin ausssichtslos gewesen. Als hellhäutiger Europäer kann Gatti nicht vortäuschen, er wäre Emigrant auf einer Route, die nur von Afrikanern und Arabern benützt wird.

Für Gatti ist das resolute Abriegeln der militärischen Sperrzone im Süden des Landes der Beweis, dass Zeugen absolut unerwünscht sind. Für ihn ist klar, dass sowohl das Heer, als auch die Behörden in die Schleppergeschäfte verwickelt sind - auf genau derselben Strecke, auf der schon vor 2000 Jahren Sklaven nach Rom geschafft wurden. Doch die Karawane der Hoffnungsvollen ist nur eine Einnahmequelle. Das Regime in Tripolis will vor allem seine Rolle als mächtiger Nachbar des Niger ausspielen und Frankreich und China den Zugriff auf die dortigen reichen Bodenschätze streitig machen.

Heißes Schmuggelgebiet Wüste

Überall findet Gatti Indizien für die Herrschaft der nigerianischen Mafia, der mächtigsten und am weitesten verzweigten internationalen Organisation Afrikas. Denn der Weg durch die Wüste entpuppt sich auch als eines der letzten Teilstücke der Drogenschmuggelroute nach Europa. Der von Gatti skizzierte Pfad führt von Kolumbien über Brasilien, den Atlantik, Nigeria, den Niger und Lybien nach Europa und dann in die USA. Eine Reise rund um die Welt, um mühsam, aber effizient den amerikanischen Anti-Drogenkrieg zu umgehen, der sich seit Jahren auf Lateinamerika konzentriert. Doch die Wüstenpisten zwischen dem Niger und Lybien sind noch aus anderen Gründen heißes Gebiet.

Wenn wir bleiben, könnte ich zum ersten Mal beweisen, dass es ein Lager der al-Qaida in der Sahara gibt. Wie aber würden die Leute hier reagieren? Man kann schließlich nicht einfach auf diese Fanatiker zugehen und sagen: "Entschuldigen Sie, ich bin Journalist, könnte ich zwei Wochen bei Ihnen bleiben?"

Erschütternde Analyse

Fabrizio Gatti, der sich im Weiteren auch noch als christlicher Kurde getarnt in ein Lager auf Lampedusa einsperren lässt, hat eine Analyse abgeliefert, die tatsächlich erschüttert. Die "Boat People" im Mittelmeer wird man jedenfalls mit anderen Augen sehen. Für Gatti ist es keine "Reise der Verzweifelten", wie es oft in den Medien dargestellt wird, ihr Antrieb ist viel mehr die Hoffnung. Anders würden viele die lebensgefährlichen Prüfungen nicht bestehen.

In seinem Buch, das sich zeitweise wie ein Abenteuerroman liest, gibt er dem namenlosen Migratenstrom ein Gesicht, erzählt unzählige Schicksale und personalisiert damit, was von den Regierungen gern entpersonalisiert und damit enthumanisiert wird. Er zeigt auch auf, dass weder das Rückholabkommen zwischen Berlusconi und Gaddafi, noch irgendwelche anderen Grenzverschärfungen an der Tatsache etwas ändern können, das Millionen von Afrikanern nach Europa wollen und dafür bereit sind, ihr Leben zu riskieren.

Solange das Elend in vielen Teilen Afrikas nicht gelindert wird und solange vor allem Länder wie Italien auf die billigen und rechtelosen Arbeitskräfte nicht verzichten wollen, werden sie diesen Weg weiterhin gehen. In der Wüste ist es so, zitiert Gatti einen Afrikaner:

"Wenn man losfährt, muss man ans Ziel kommen. Man kann nicht warten, und man kann auch nicht umkehren. Und wenn man aufgehalten wird, läuft man Gefahr, zu verhungern. Es reicht nicht, die Grenzen zu schließen. Das ist es, was ihr Europäer nicht versteht. Hast du je in deinem Leben gehungert?"
"Nein, Yaya, nie."

Service

Fabrizio Gatti, "Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa", aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß, Verlag Antje Kunstmann

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