Neues Buch von T. C. Boyle

Das wilde Kind

Das sogenannte "Wolfskind" erregte im nach-revolutionären Frankreich großes Aufsehen. Wissenschaftler versuchten, ihm "Manieren" beizubringen. T. C. Boyle hat aus dem historischen Plot eine Parabel über die Grausamkeit der Erziehung gemacht.

Fünf Jahre ist der Bub alt, als er von einer Frau in den Wald gebracht wird. Das dreizehnte Kind einer armen Familie ist er, störrisch und unterernährt. Die Frau, die es in die Einsamkeit führt, ist die zweite Gattin des Vaters. Da die Familie Hunger leidet und der Bub weder sprechen noch sich sonst verständlich machen kann, hat die Familie beschlossen, ihn zu töten.

Die Frau packt das Kind an den Haaren und verdreht ihm den Kopf, sodass es die Kehle entblößt. Doch der Schnitt mit dem Küchenmesser gelingt nicht ganz. Zwar fließt Blut, das Kind fällt zu Boden und die Mutter läuft nach Hause. Aber der Bub überlebt und ein paar Jahre später wird er für großes Aufsehen sorgen.

Die wahre Geschichte

Im Herbst 1797 wird das Wolfskind zum ersten Mal gesichtet. Pilzsammler und Trüffelsucher berichten von einem Wesen, mehr Tier als Mensch, das die Wälder unsicher macht. Im Juli 1798 geht das wilde Kind dann Jägern in die Falle. Es kann sich aber befreien. Erst im Jänner 1800 wird des dann endgültig eingefangen.

Das Kind verabscheut Süßigkeiten und gekochtes Fleisch, es isst nur Kartoffeln und Nüsse. Es interessiert sich nicht für andere Kinder und scheint seine Umwelt nur dann wahrzunehmen, wenn es irgendwo etwas Essbares erkennt.

T.C. Boyle erzählt in seinem neuen Buch die wahre Geschichte des Victor von Aveyron nach.

Das Wilde und die Zivilisation

Dieses Wolfskind erregt im nachrevolutionären Frankreich großes Aufsehen. Ein geborener Idiot sei das Kind, stellte der Psychiater Philippe Pinel fest. Und diese Einschätzung bestätigen die meisten, die mit dem Wilden in Kontakt kamen.

Ganz anderer Meinung war Jean Itard, Chefarzt einer Taubstummenanstalt. Er war sich sicher, dass es sich bei dem Jungen zwar um einen Idioten handle, dass diese Idiotie aber keine biologischen, sondern kulturelle Ursachen habe, es also sehr wohl möglich wäre, dem Jungen die grundlegenden kulturellen Techniken beizubringen.

Boyles Text konzentriert sich auf die verzweifelten Versuche Jean Itards und der Autor macht aus der Geschichte des wilden Kindes eine Parabel über die Zivilisation und das Wilde an sich. Mit allen Mitteln versucht Itard, ein bisschen Sitte, Kultur und Anstand in das Kind hineinzubekommen. Kleine Fortschritte gibt es, aber die sind so winzig, dass sie kaum zählen. Einmal will Itard das Kind in großer Runde vorführen und alle sind gespannt. Aber Victor benimmt sich, wie es seine Art ist: Er sprengt alle Konventionen. Als er dann auch noch vor allen zu masturbieren beginnt, ist der Skandal perfekt.

Opfer von Erziehungsversuchen

Boyles Buch ist ein Buch über die Grausamkeit der Erziehung. Victor ist anders - und darf es nicht bleiben. Er wird das Opfer zahlreicher und lang andauernder "Umerziehungsversuche" seiner Lehrer, die einen Menschen nach ihren Vorstellungen aus ihm machen wollen.

Subtil, aber doch deutlich bezieht Boyle Stellung für den Jungen. In "Das wilde Kind" sucht und findet Boyle seine Lieblingsthemen. Er, der immer Partei für die Außenseiter und Underdogs ergreift, klagt die brutalen Versuche an, mit deren Hilfe die, die anders sind, gleichgeschaltet werden sollen.

Es ist auch kein Zufall, dass Boyle sich vor allem für die sexuelle Verstocktheit der Gesellschaft des beginnenden 19. Jahrhundert interessiert. Denn lange Zeit goutiert die Gesellschaft die Versuche Itards. Aber ab dem Moment, ab dem Victor in die Pubertät kommt, ungeniert onaniert und den Mädchen auf die Brüste greift, ist Schluss mit lustig. Das Kind wird weggesperrt und auch Jean Itard gibt seine Bestrebungen, dem Wilden ein wenig Zivilisation beizubringen, auf.

Geradliniger Text

Dass Boyle seine Texte um historische Persönlichkeiten herum kreiert, ist nichts Neues. "Die Frauen" zum Beispiel hatte das Leben des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright zum Thema. Und auch dem amerikanische Sexpapst Dr. Kinsey und dem Cornflakes-Mogul John Harvey Kellogg widmete er Romane. In den vorhergehenden Büchern aber entfremdete Boyle die Biografien und versuchte, das Verborgene, das Dunkle hervorzuholen. Bei "Das wilde Kind" nun erzählt Boyle geradlinig die historische Geschichte nach.

Das Buch ist ein interessanter Text, brav geschrieben, mäßig aufregend. All das aber, wofür man Boyle kennt und wofür er berühmt ist - seine scharfen Analysen, sein beißender Witz und seine Ironie - fehlen hier völlig. Was vielleicht daran liegt, dass der Text im amerikanischen Original als eine von dreizehn Storys erschienen ist, denn als eine Kurzgeschichte von mehreren mag dieser knapp 100-seitige Text durchaus funktionieren, als eigenständiges Buch hingegen weniger.

Service

T. C. Boyle, "Das wilde Kind", aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren, Hanser Verlag

Hanser - T. C. Boyle