Kopf, Körper und Gefühl

Liebe in Zeiten der Pornografie

In der "Multi-Media-Gesellschaft" können alle alles sehen. Ob etwas echt oder gefälscht ist, erscheint zweitrangig. Ist die Fähigkeit verloren gegangen, zwischen konstruierten Realitäten und inszenierter Information zu unterscheiden, etwa bei Internet-Pornos?

Im Gespräch, 29.04.2010

Bettina Weidinger und Wolfgang Kostenwein über die Fragen der Jugendlichen zu Sexualität

Nein, man kann nicht "zu früh" aufgeklärt werden. Nein, mit früher Aufklärung werden auch keine "schlafenden Hunde" geweckt. Im Gegenteil. Die Hunde werden leichter als Hunde erkannt. Realität und Fiktion als das identifiziert, was sie tatsächlich sind.

Von Aufklärung, um Medienkompetenz zu erlangen, ist hier die Rede. Von der Fähigkeit unterscheiden zu können, welche Medieninhalte nur konstruierte Realität oder inszenierte Information wiedergeben, und welche tatsächlich eine unverfälschte Abbildung der Wirklichkeit darstellen.

Längst haben die Gesellschaften der westlichen Industriewelt die "Gutenberg-Galaxis" verlassen, aus der das Sprichwort "er lügt wie gedruckt" stammt. Was bedeutete: Buchautoren, die nie persönlich anwesend und daher - im Gegensatz zum Erzähler narrativer Kulturen - nicht gründlich befragt werden konnten, standen von vornherein unter dem Generalverdacht Lügner zu sein.

Längst sind wir in der "Multi-Media-Gesellschaft" angekommen, deren - angeblich - wichtigstes Werkzeug eine Internetsuchmaschine ist. Während der Buchmarkt seit Gutenberg zuerst von Kirche, dann vom Staat mittels Index und/oder Zensur gelenkt wurde, entzieht sich das mediale Angebot im 21. Jahrhundert, weil grenzüberschreitend, fast jeder staatlichen Kontrolle. Alle können alles sehen. Ob es echt oder gefälscht ist, erscheint zweitrangig.

Die nicht aufgeklärten, nicht geschulten, nicht unterwiesenen Bürger haben längst das Gefühl dafür verloren, was Wirklichkeit und was Fiktion ist. Jedes zweite Bild, das wir sehen, aufnehmen und das in uns weiter wirkt, entstammt einer Second-Hand-Quelle, deren Qualität wir in den meisten Fällen nie ausreichend überprüfen werden können.

Wenn also Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren im Internet surfen und dabei auf Pornographie stoßen - und 79 Prozent dieser Altersgruppe haben bereits auf einschlägigen Gratisseiten explizite sexuelle Darstellungen kennen gelernt -, dann ist es entscheidend, dass sie zu unterscheiden wissen, ob es sich um einen Ausschnitt der Wirklichkeit oder bloß um ein Fake oder ein Genre handelt, dass Lichtjahre von der Realität entfernt liegt.

Jugendliche, die sich mittels Pornographie aufklären, so lautet eine Befürchtung, verbinden Sexualität nicht mehr mit Liebe. Andere wieder geben Entwarnung: Die Jugendlichen, die mit und in der Welt des Web 2.0 aufgewachsen sind, würden sehr wohl zu unterscheiden wissen zwischen der "kalten Erregung" der Pornographie, die uns zum Objekt degradiert, und dem Kosmos Erotik, der uns liebevolles Subjekt sein lässt.

Faktum ist: Pornographie normiert Lust. Mehr noch: Pornographie normiert den Geschlechtsverkehr, normiert die sexuellen Praktiken, normiert Aussehen des Genitalbereiches und suggeriert Idealmaße oder Idealbilder des Genitals. Das ergibt letztlich eine lustfeindliche Stimmung.

Die Normierung sexueller Begegnung und damit die Dramaturgie der Pornofilme hat vielfach auch hierzulande in den Schlafzimmern Einzug gehalten, weil Internet -Sexseiten mittlerweile "Vorbild"-Funktion erlangt haben. Mit dem Effekt, dass Jugendliche (und auch Erwachsene) unter zunehmenden Druck stehen, Erwartungen zu erfüllen was die Attraktivität, die sexuelle Leistungsfähigkeit und die Beherrschung des Repertoires sexueller Befriedigung betrifft. Die "Selbstoptimierung" des eigenen Körpers - von Kosmetika, über Pharmazeutika bis hin zur Schönheitsoperation - soll konkurrenzfähig machen für den modernen Partnermarkt.

Faktum ist aber auch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Entwicklungen. Viele Jugendliche (aber auch Erwachsene) zeigen ihr Desinteresse an öffentlich bekundeten sexuellen Lüsten, reagieren gelassen und sprechen von Phasen asexuellen Verhaltens. Ohne gleich ausgelacht zu werden. Die Sexualmoral vieler Jugendlicher ist kommunikativer, friedlicher und berechenbarer geworden, meint der deutsche Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt - mit einem Wort: "herrschaftsfreier".

Allerdings: Unser System produziert gleichzeitig entwürdigende Auswüchse wie das Phänomen der sexuellen Gewalt. Die Verliererinnen sind meist junge Mädchen, die sich unterwerfen, weil sie glauben, sich den Wünschen der Burschen ausliefern zu müssen, um ihren Freund zu behalten. Die früh schwanger werden, die früh Mutter werden, die bereits Schwangerschaftsabbrüche hinter sich haben. Die keine Perspektive sehen, und sich deshalb "im vertrauten Elend" eingerichtet haben.

Mag sein, dass es sich dabei um ein Schichtproblem handelt. Muss aber nicht. Sexualtherapeuten wie Bettina Weidinger und Wolfgang Kostenwein drängen darauf, Jugendlichen nicht nur das biologische Wissen über Funktion der Geschlechtsorgane und die Fortpflanzung zu vermitteln, nicht nur über Verhütung und potentielle Ansteckungsgefahren zu informieren. Sondern auch "emotionale Aufklärung" zu leisten. Offen darüber zu sprechen, was sich in der Gefühlswelt jenseits von Verliebtheit und den "Schmetterlingen im Bauch" ereignet, nämlich das Gefühl der Begierde, der Lust und Erregung anzusprechen und damit Jugendlichen eine wesentliche Orientierungshilfe zu geben: Zu erkennen, dass die beste Voraussetzungen für erfüllte Sexualität dann gegeben ist, wenn sich Kopf, Körper und Gefühl einig sind.

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