Kolumne von Ute Maurnböck

Tod und dazwischen ein bisschen Leben

Der Tod war lange weit weg. Er betraf mich nicht. Von Krankheiten hatten nur die Alten geredet. Also alle über vierzig. Unverständliche Wörter brannten sich ins kindliche Gedächtnis: Angina pectoris, Herzkammerflimmern oder Glioblastom.

Gestorben sind ein paar Verwandte, und dunkel kann ich mich an die Begräbnisse erinnern, an den Knoten im Hals, der immer mehr schmerzte, bis ich weinen musste und an die Verwunderung, dass schon bald nach dem Begräbnis niemand mehr von dem Menschen, der fort war, sprach.

Schon lange bevor ich in die Schule ging, versuchte ich, mir den Tod vorzustellen. Ich fand den Gedanken faszinierend, dass ich irgendwann einmal erwachsen sein würde und dann all die alten Leute im Dorf nicht mehr da wären. War das dann noch dasselbe Dorf?

Als Jugendliche trug ich viel schwarz. Weil cool. Das Sterben fand ich noch immer faszinierend, las Bücher über Jenseitsvorstellungen, stellte mir ein Totenreich vor, überlegte, ob es ein Fegefeuer gab, wollte Parapsychologie studieren. Ich verschlang Simone de Beauvoirs Roman "Alle sind sterblich" und war froh, nicht unsterblich zu sein wie Fosca, der unsterbliche lebende Tote. "Ich träume, es gibt keine Menschen mehr. Sie sind alle tot. Die Erde ist weiß und starr. Es gibt noch den Mond am Himmel, er scheint auf die weiße Erde."

Tot sein stellte ich mir einfach einsam vor. Das, fand ich, war das eigentlich Schreckliche daran. Die Person, die stirbt, weiß nicht, was sie nachher erwartet. Sie hat keinen Beistand, kann sich niemandem mitteilen, ist mit einem Mal alleine. Nur tot zu sein, also zu sterben und dann wäre alles nichts, widerstrebte meiner Vorstellung. Dazu glaubte ich zu sehr an Geister. Wiedergeboren zu werden war auch kein Trost. Vielmehr eine entsetzliche Vorstellung. Alles wieder und wieder und wieder zu erleben, mit der sehr hohen Wahrscheinlichkeit es schlechter zu treffen als jetzt .

Dann, als junge Erwachsene, starb mein Vater. Ich war bei ihm und dachte in seinen letzten Sekunden: hoffentlich wacht er nicht mehr auf. Er hatte genug gelitten. Als sein Körper abtransportiert wurde, schüttelten mich Weinkrämpfe. Ich wünschte mir so sehr, dass ich etwas für ihn tun könnte, er nicht allein tot sein müsste. Bis ich mir sagte: du bist genauso allein. Jeder ist allein, und in ein paar Jahrzehnten sind wir wieder zusammen.

Wochenlang lebte ich wie unter einer Glasglocke. Dann war der Tod lange weit weg.

Gestern telefonierte ich mit einer Freundin. Sie hat Lungenkrebs und die Chemotherapie hat gut angeschlagen. Es ging aufwärts. So viele Texte, die sie schreiben möchte, das Meer, an dem sie in zehn Jahren leben möchte, die Kinder, die gerade erwachsen sind.

Gestern erzählte sie mir, dass der Tumor plötzlich weiterwächst. Sie war immer schon eine Optimistin, zum ersten Mal sagte sie: es sieht nicht gut aus. Die Frage nach einem Warum stellt sie sich nicht.

Wie oft werde ich sie noch sehen? Wird sie am Meer leben können?

Die Tragödie ist nicht der Tod, dachte ich, sondern das Leben. Das Leben ohne die Gestorbenen. Die Tragödie ist, dass wir die, die wir lieben, verlassen müssen - oder von ihnen verlassen werden. Vor meinem Haus blühen Schattenglöckchen und der Tod ist ganz nah.