Roman-Präsentation in Wien

Endstation Russland

Mit einem kritischen Blick auf Russland meldet sich die russische Autorin Natalja Kljutscharjowa (29) zu Wort. Am Mittwoch, 5. Mai 2010 hat sie in der Alten Schmiede in Wien ihren ersten Roman präsentiert: "Endstation Russland" beschreibt facettenreich das Leben in einem Land der Extreme.

Kultur aktuell, 06.05.2010

Natalja Kljutscharjowa wurde in der Ära Breschnew geboren, in der Zeit von Putin ist die aufgewachsen. Sie arbeitet als Redakteurin bei einer Moskauer Zeitschrift.

Ziellos durchs Land

Nikita ist Anfang 20, er studiert in St. Petersburg, seine Freundin hat ihn verlassen und er entflieht dem Kummer in einem Eisenbahnwagon. "Rossija: obscij vagon" heißt der Roman im Russischen Original, und "obscij vagon" bedeutet soviel wie Waggon vierter Klasse, die billigste Art in Russland zu reisen.

Nikita also ist unterwegs: ziellos, kreuz und quer durch das Land und durch diverse soziale Biotope. Ein verarmter Veteran aus dem Großen Vaterländischen Krieg tritt auf und eine Babuschka aus dem zerbombten Grosny, ein intellektueller Snob und eine resignierte junge Mutter, Tuberkulosekranke, Aristokraten und Wanderphilosophen. "Endstation Russland", das ist eine Road Novel auf Schienen - melodramatisch, grotesk, pointen- und temporeich.

Pragmatisch und zynisch

"Nikita ist kein typischer Vertreter unserer Generation, unsere Altersgenossen sind egoistisch, praktisch-pragmatisch orientiert und zynisch", sagt Natalja Kljutscharjowa. Und wenig schmeichelhaft sind auch die Befunde in ihrem Roman: "Die Föderation liegt im Sterben. Das Imperium steht auf tönernen Füßen", ruft einer der Protagonisten in St. Petersburg auf offener Straße. Und am Ende marschierende tausende Demonstranten auf Moskau zu.

"Mein Roman ist für mich auch der Abschied von Jugendträumen, mit 20 habe ich noch an die Revolution geglaubt, heute weiß ich, dass wir eine andere Veränderung brauchen, eine moralische Veränderung. Freiheit - das heißt bei uns: alles ist erlaubt, niemand begreift Freiheit als Verantwortung", so Kljutscharjowa.

Oligarchen und Diebe als Helden

"Der Materialismus zerstört Russlands Wesen", schrieb Natalja Kljutscharjowa kürzlich im Züricher "Tagesanzeiger". Und: "Der Geisteszustand der postsowjetischen Gesellschaft lässt sich mit dem Ausdruck 'chaljawa' definieren".

"Das heißt so viel wie 'alles haben, ohne irgendetwas zu tun', und das bestimmt das Bewusstsein vieler Menschen im heutigen Russland", erläutert die Autorin. "Ich halte das für sehr zerstörerisch. Die Helden sind Oligarchen und Diebe, die sich nur durch das Ausmaß des Diebstahls voneinander unterscheiden."

Und: Direkte Einmischung bleibt nutzlos, meint Kljutscharjowa. Das habe sie am eigenen Leib erfahren. Sie habe alles Mögliche ausprobiert: Kundgebungen, Enthüllungsartikel, Briefe an alle möglichen Instanzen, Beschwerden - mehr als einen therapeutischen Effekt für sich selbst habe das nicht gebracht.

"Wir haben die Erfahrung des totalitären Regimes nicht verarbeitet, in keiner Weise, und deshalb bin ich mir nicht sicher, dass sich das nicht wiederholen wird", so Kljutscharjowa. "Viele denken so wie ich. Es gibt bereits einen Trend, Bücher aufzukaufen, die heute noch erscheinen dürfen, weil man sich sagt: Wer weiß wie lange noch. Oder andere, die sagen: Wir reisen, solange es noch geht, bevor die Grenzen wieder dicht gemacht werden."

Service

Natalja Kljutscharjowa, "Endstation Russland", Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt, Suhrkamp Verlag

Alte Schmiede