Debütroman von Jean Mattern

Im Király-Bad

In Jean Matterns Debütroman dreht sich alles um Sprache: die Sprache, die der Protagonist nicht sprechen darf, die Sprache der Eltern, oder auch nur: die richtigen Worte zur rechten Zeit finden.

Wörterbücher füllten meine Tage aus, doch dabei verloren die Wörter ihren Sinn. Ich habe keine Muttersprache mehr, ich hatte nie eine. Die Sprache, die mir eine hätte sein können, wurde von meinen Eltern geflüstert, wenn sie sich allein glaubten. Ich hörte ihre Sprache durch die Wand zwischen unseren Zimmern, aber ich durfte sie nicht sprechen.

Der etwa dreißigjährige Übersetzer Gabriel, der diese Zeilen niederschreibt, ist in einer ungarisch-jüdischen Emigrantenfamilie in Frankreich aufgewachsen. Die Eltern, "erstarrt in der Furcht, sich durch einen Grammatikfehler zu verraten", wie Gabriel notiert, "unterschlugen ihr Exil, um mir eine gewöhnliche französische Kindheit in einer gewöhnlichen Kleinstadt in der Provinz zu bieten".

Doch diese Kindheit will nicht normal werden, und Gabriel fühlt sich nie zu Hause in der französischen Sprache. Weil sie ihm fremd bleibt, lernt er jede Fremdsprache leicht, kann sich jedem Idiom anpassen, jeden Tonfall imitieren. Das kommt ihm schon als Schüler in England zugute, und erst recht, als er dort Literaturwissenschaft und Übersetzung studiert und Laura, eine fröhliche junge Engländerin, kennenlernt.

Mauer des Schweigens

In Gabriels Familie gab es aber noch ein anderes Sprechverbot, ein noch stärkeres Trauma, das nicht berührt werden durfte: Gabriels Schwester Marianne war von einem betrunkenen Autofahrer getötet worden. "Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen" - das war der einzige Satz, den der Vater dafür fand, und der Sohn wusste nicht einmal, dass er aus dem biblischen Hiob-Buch stammt. Er erfuhr es erst, als er Hebräisch lernte, um - ohne den Sprachfilter der Eltern - wenigstens an die hebräische Bibel heranzukommen.

Doch die Mauer des Schweigens in der Familie konnte er nicht durchbrechen, er blieb allein mit seinen Albträumen. Und mit seiner Trauer bei Gelegenheiten, wo alle anderen sich freuten - nach der Matura etwa, als er nur daran denken konnte, wie stolz seine große Schwester jetzt auf ihn wäre.

Die Worte anderer

"Ja, ich wurde ein Spezialist für Worte, aber für die Worte anderer", hält Gabriel fest. Der einzige Mensch, dem er sich öffnen konnte, ist sein Studienfreund Leo; denn auch der hatte als Kind seine ältere Schwester verloren. Aus Leos Briefen hat er sich denn auch, wie gegen Ende des Buches klar wird, Sätze ausgeborgt, um sie an Laura zu schreiben und sie damit für sich zu gewinnen. Laura mit ihrem fröhlichen Lachen, die Gabriel zum Glück bekehren wollte.

Die beiden heirateten, und anfangs ging alles gut, privat wie beruflich: Laura hatte einen guten Job und Gabriel erhielt den Auftrag, Thomas Manns "Doktor Faustus" neu zu übersetzen. In der Folge fährt er zu einem Übersetzertreffen erstmals nach Ungarn, und seine Vergangenheit holt ihn ein. Er muss die Spuren seiner Vorfahren finden.

Doch dann wird Laura schwanger, und diese Nachricht wirft Gabriel völlig aus der Bahn. Immer mehr wird ihm deutlich, dass er vom Schweigegebot der Eltern noch immer wie gelähmt ist und auch Laura fast alles von seiner Vergangenheit verschwiegen hat. Er schreibt ein langes nächtliches Mail an Leo, das Laura findet; auch als sie ihn damit konfrontiert, ist Gabriel unfähig zu sprechen. Also packt Laura ihre Sachen und geht. Gabriel fliegt noch einmal nach Budapest, um mehr über seine Herkunft zu erfahren; dabei badet er auch einmal im Király-Bad. Warum gerade diese kleine Szene dem Buch seinen Titel gegeben hat, bleibt allerdings ein Rätsel.

Keine Sprache für den Sohn

Gabriels Versuch, doch einmal ein Gespräch mit den Eltern aufzunehmen, geht völlig ins Leere. Einmal noch sieht er Laura, geht mit ihr zum Arzt und hört den Herzschlag seines Kindes. Doch der vermengt sich für ihn mit dem Echo der Erde, die auf den Sarg seiner Schwester prasselte. Gabriel taucht unter, damit Laura ihn nicht mehr finden kann.

Während er seine Aufzeichnungen schreibt, muss sein Sohn bereits sieben Monate alt sein; er hat ihn nie gesehen.

Ich bin der Gefangene meiner Abwesenheit. Und Laura kennt nicht einmal die Adresse meines Gefängnisses. (...) Ich habe Laura mit den Worten eines anderen verführt. Ich liebte sie in einer Sprache, die nicht meine war, und ich weiß nicht, in welcher Sprache ich mit meinem Kind sprechen soll.

Nur eines rührt an Gabriels Panzer: die Gebete in der Synagoge, der Ritus von Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungsfest. "Öffne uns ein Tor", heißt eines der Gebete. Und Gabriel hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich auch für ihn noch ein Tor öffnen wird.

Traumatische Sprechverbote

Jean Mattern, im Pariser Verlag Gallimard zuständig für fremdsprachige Literatur, hat seinen ersten Roman über Familientabus und die Spätfolgen des Holocaust in der zweiten Generation geschrieben, der gerade in seiner Reduziertheit beeindruckt. Keine Beschreibungen, keine Orte und Landschaften, auch keine Familiengeschichte - der Holocaust in Ungarn und wie die Eltern nach Frankreich gekommen sind, das alles bleibt im Dunkeln.

Auch von den Großeltern finden sich nur die Taufurkunden - sie sind Ende des 19. Jahrhunderts zum Christentum konvertiert. Gabriels Schreiben, seine Ich-Erzählung, ist ganz auf die traumatischen Sprechverbote konzentriert, in deren Bann er noch immer steht. Diese Stringenz macht die Stärke dieses Buches aus.

Was irritiert, sind einige Details: Warum sollte etwa eine Zusammenkunft der Thomas-Mann-Übersetzer ausgerechnet in Ungarn und nicht in Deutschland stattfinden? Außerdem ist dieses Buch vom Verlag auf ärgerliche Weise verschlampt worden. Das beginnt schon beim Klappentext, der behauptet, Gabriel hätte in Budapest die Gräber seiner Familie gefunden - was dezidiert nicht zutrifft. Und es setzt sich fort in etlichen Druckfehlern.

Vor allem aber ist fast jeder ungarische Name falsch geschrieben. Man war nicht einmal in der Lage, den mittlerweile weltberühmten Schriftsteller Sándor Márai, den vom Film "Der englische Patient" bekannten Familiennamen Almássy oder das Gericht Lecsó richtig wiederzugeben, von unbekannteren Wörtern ganz zu schweigen. Es ist gut möglich, dass einige dieser Fahler schon dem französischen Original anzulasten sind. Ein Verlag, der auf sich hält, hätte sie keinesfalls stehen lassen dürfen. Jean Matterns beeindruckender Debütroman hätte eine sorgfältige Edition allemal verdient.

Service

Jean Mattern, "Im Király-Bad", aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, Insel Verlag

Suhrkamp/Insel - Im Király-Bad