Debütroman von Christoph Poschenrieder

Die Welt ist im Kopf

Was Daniel Kehlmann mit seiner "Vermessung der Welt" gezeigt hat, macht nun auch Christoph Poschenrieder in seinem Debütroman: Er lässt historische Personen fiktiv aufeinander treffen. Bei Poschenrieder sind es Arthur Schopenhauer und Lord Byron.

Der Wille ist das Ding an sich, ein Objekt ist nur im Subjekt möglich und jeder Wunsch geht aus einem Bedürfnis, einem Leiden, einem Mangel hervor. Das Schicksal der Menschen ist Elend, Jammer, Qual und Tod - und Optimismus "ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit": Solche Einsichten - und natürlich auch viel explizitere, weniger schlagwortartige - formulierte Arthur Schopenhauer in seinem philosophischen Hauptwerk, "Die Welt als Wille und Vorstellung". Ein Werk, das später so etwas wie die Bibel der pessimistischen Vernunftkritik werden sollte.

Auf nach Venedig!

Erschöpft von der Niederschrift und verärgert über seinen Verleger Brockhaus, der keine Anstalten machte, das Werk zügig zum Druck zu befördern, beschloss der Philosoph, eine Reise nach Italien zu unternehmen. In der Tasche ein Empfehlungsschreiben von Goethe an Lord Byron, den berühmt-berüchtigten Dichter und Dandy, der auf der Flucht vor Gläubigern aufs europäische Festland exilierte und seit 1817 in Italien weilte.

Im Herbst 1818 brach Schopenhauer Richtung Süden auf. Erste Station seiner Reise war Venedig, wo er Byron zu begegnen hoffte. Was der als Eigenbrötler und Misanthrop verschriene Deutsche in der Lagunenstadt erlebte - oder besser: erlebt haben könnte -, das malt sich nun Christoph Poschenrieder aus: "Die Welt ist im Kopf" heißt sein Roman - über Schopenhauer, Venedig, die Liebe und die politischen Wirrnisse dieser Zeit.

Das "Bangkok Europas"

Christoph Poschenrieder führt Schopenhauer in ein Venedig, das seine goldenen Zeiten längst hinter sich hat: die Stadt verlottert, das Großbürgertum verarmt, die kleinen Leute in Existenznot. Malaria, Typhus, Hungersnöte, und auf dem Mittagstisch nicht selten Katzenfleisch. Und dann war da noch das Metternich'sche Polizei- und Spitzelsystem.

"Zu dieser Zeit ist Venedig wieder österreichisch", erklärt der Autor. "Die Österreicher haben es ja nach dem Wiener Kongress wieder bekommen, nach der endgültigen Niederlage Napoleons, nachdem sie es vorher schon einmal besessen haben. Diese österreichische Besetzung in ganz Norditalien wird in der Regel als relativ zivil beschrieben. (...) Abgesehen davon ist Venedig damals im Nachklang der etwas wilderen Zeiten immer noch so etwas wie das Bangkok Europas gewesen, man fuhr dorthin, um sich zu vergnügen."

Prüfstein Liebe

In diesem Venedig begegnet Schopenhauer umtriebigen Händlern, aufdringlichen Cicerones und durchtriebenen Satelliti, den Handlangern des Metternich'schen Systems. Er trifft Carlo, den jovialen Wurstmacher, Quadri, den Papierschneider, der mit der österreichischen Polizei kollaboriert, und Ciccio, den Straßenköter, der sein Führer durch das labyrinthische Netz der Gassen und Kanäle wird.

In dieses Venedig dringen Depeschen aus der Heimat, die von Schwierigkeiten mit dem Verleger, vom Verlust des Vermögens und einer unverhofften Vaterschaft künden. Schopenhauer erlernt im Schweiße seines Angesichts die Kunst des Gondelfahrens und genießt die "ernsteste aller Leidenschaften", die Lust. Die Liebe zu Teresa, Tochter eines Glasbläser in Murano, wird zum ernsthaften Prüfstein seines Diktums, das da lautet, "der erhabene Charakter wird die Schönheit der Weiber wahrnehmen, ohne sie zu begehren".

Wir begegnen einer Operndiva, die den Höhepunkt ihres Ruhms wie ihrer Stimmkraft überschritten hat und nun versucht, mit dem Trällern einer Händel-Arie ihr Geschäft zu machen, während ein deutscher Student, der mit Schopenhauer das Interesse an indischer Philosophie teilt, sich für die Reize der Primadonna genauso zu begeistern weiß wie für den Ruhm von Byron und ebenso wie Schopenhauer die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei auf sich zieht, die die beiden als Anhänger der vermeintlich umstürzlerischen "Brahmanen" verdächtigen.

"Die Figuren, die hier auftauchen, sollten ihre Berührungspunkte haben, sollten sich mal über den Weg laufen, aneinander vorbeireden oder vorbei laufen", so Poschenrieder. "Es sollte gezeigt werden, dass ein Netzwerk vorhanden war von Interessen, die das Geschick anderer Menschen mitbestimmen."

Mit großem Gespür

"Die Welt ist im Kopf" ist ein sprachlich und stilistisch überzeugendes Romandebüt. Es verbindet geschickt Erfundenes mit Verbürgtem und beweist dabei großes Gespür für Situationen, Charaktere und Milieus. Es porträtiert einen jungen, ebenso eigensinnigen wie unerschrockenen Gelehrten und Venedig-Touristen - und erliegt dabei weder der Versuchung, das Handlungsgerüst als Alibi für einen Schopenhauer-Philosophie-Nachhilfeunterricht zu benutzen und einen übertriebenen Kotau vor dem großen Philosophen zu vollführen, noch der Verlockung, nur auf anekdotenhaft-skurrile Episoden zu schielen und hochtrabende Philosopheme an den Klippen der Realität zerschellen zu lassen - auch wenn der notorische Pessimist Schopenhauer angesichts der frischerwachten Liebesgefühle sich fragen muss, "Kann es sein, dass ich im Buch der Welt ein paar Seiten überblättert habe?"

Christoph Poschenrieders "Die Welt ist im Kopf" ist ein Roman, der amüsant ist, geistreich und unterhaltsam, wirklich spannend aber ist er nicht. Dazu fehlt es der Geschichte, so farbig und anschaulich sie auch erzählt ist, doch an Tempo und dramaturgischem Bogen, auch wenn der Roman gegen Ende noch einmal Fahrt aufzunehmen versucht, mit einer abenteuerlichen Gondel-Verfolgung und der imaginären Begegnung von Schopenhauer und Byron im Karneval von Venedig.

"Touristen, die nach Venedig kamen, die konnten Touren buchen, die sie an Orte und Stätten, wo Byron anzutreffen war, brachten", erklärt Poschenrieder. "Der Mann war mehr als berühmt. (..) Ich habe geglaubt, dass Byron und Schopenhauer einiges gemeinsam haben: das fast gleiche Alter, beide hatten mit ihren Verlegern Stress, beide waren sie leicht behindert, Byron hatte einen Klumpfuß, Schopenhauer hörte schlecht auf einem Ohr, beide waren frühvollendet. (...) Natürlich gibt es offensichtliche Unterschiedliche bezüglich des Lebenswandels. Der Byron als exzessiver Mensch, der alles bis zur Neige auskostet, und Schopenhauer der zurückhaltende, der sich nicht unvorsichtig in irgendein Abenteuer geworfen hat. Diese mögliche Begegnung der beiden, die halb stattfindet und halb nicht, die basiert schon auf dem gefühlten und tatsächlichen Widerspruch zwischen diesen beiden Persönlichkeiten."

Die Welt und die Wahrheit

Am Ende wird ein Schwein über Venedig fliegen, zwei Männer in Maske Sentenzen über die Welt, die Wahrheit und die Worte austauschen, Schopenhauer sein Billet an Byron ins Wasser schnippen und ein ehemaliger Bediensteter der Geheimpolizei in seinem Südtiroler Refugium sich der Lektüre Schopenhauers ergeben, dessen "Welt als Wille und Vorstellung" der Verleger Jahre später einstampfen und makulieren lässt - ein Buch, das verrät, "warum der Kopf, der in der Welt ist, behaupten kann, dass die Welt im Kopf ist".

Service

Christoph Poschenrieder, "Die Welt ist im Kopf", Diogenes Verlag

Diogenes - Die Welt ist im Kopf