Eine außergewöhnliche Lebensgeschichte

Mandelas Weg

Fast 30 Jahre verbrachte Nelson Mandela in südafrikanischen Gefängnissen. Wo er die Kraft hernahm, 1990, noch am Tage seiner Entlassung vor 120.000 Zuhörern zu einer Politik der Versöhnung aufzurufen, das interessierte den US-Journalisten Richard Stengel.

Vom Tagebuch zum Porträt

Kaum ein Journalist kennt Nelson Mandela so gut wie Richard Stengel. Drei Jahre lang sah er den ehemaligen Präsidenten Südafrikas täglich. Aus den Interviews entstand 1996 Mandelas mehr als 800 Seiten lange Autobiografie "Der lange Weg zur Freiheit".

Ghostwriter Richard Stengel führte während der Arbeit daran ein ausführliches Tagebuch. Über die drei Jahre hat der Chefredakteur des "Time Magazine" viele Anekdoten gesammelt. Für "Mandelas Weg“ hat er die besten ausgewählt. Dazu zählt auch sein erstes Treffen mit Nelson Mandela Ende 1992:

"Die Autobiografie war ihm nicht sonderlich wichtig. Ich habe drei Wochen in Johannesburg auf unser erstes Treffen gewartet und ich wurde ein wenig unruhig. Schließlich traf ich ihn im Shell House, der damaligen Zentrale des African National Congress. Jemanden wie Mandela persönlich zu begegnen, ist natürlich immer ehrfurchtseinflößend. Nach einem kurzen Gespräch hat Mandela zu mir gesagt: 'Ich nehme an, wenn wir uns zwei, drei Mal zusammensetzen, haben Sie genug für das Buch.' Da brach meine aufgestaute Frustration hervor und ich habe gesagt: 'Wenn Sie glauben, dass zwei, drei Gespräche reichen, sind Sie verrückt.'"

Richard Stengel befürchtete, dass es nun mit dem Projekt vorbei sein würde. Doch dem war nicht so. Zwei Tage später traf er den Anti-Apartheid-Aktivisten nochmals: "Ich habe ihn vielmals um Entschuldigung gebeten und gesagt, es tue mir leid, dass ich so rüde zu ihm war. Darauf hat er gesagt: 'Wenn Sie glauben, dass das rüde war, müssen Sie ein sehr sanfter junger Mann sein.' Ich habe gelacht, und dann ist mir klar geworden: Das ist ein Mann, der 27 Jahre im Gefängnis war, der von Wärtern attackiert worden und davor als Revolutionär gejagt worden ist. Wenn ich ihn nach zehn Minuten verrückt nenne, macht ihm das nichts aus."

"Bin kein Heiliger"

Wichtig war Richard Stengel auch, Mandelas Persönlichkeit facettenreicher als üblich darzustellen, also als Mischung aus Heiliger und gütiger Vaterfigur. Doch Mandela, so der Autor, ist ein Mann mit vielen Widersprüchen.

"Wir sehen vor allem diesen nun 91 Jahre alten Mann mit dem reizenden Lächeln. Aber er sagt selber immer: 'Macht keinen Heiligen aus mir. Ich bin keiner.' Und er war tatsächlich keiner: Er war der Gründer des militärischen Flügels des African National Congress; er war Soldat. Er hat viele schwere Entscheidungen getroffen und, wie er selber zugibt, viele Fehler gemacht. Doch die vielen Jahre im Gefängnis haben verhindert, dass er öffentlich Fehler macht, die ihn eben nicht als Heiligen erscheinen lassen."

Vom Revolutionär zum Staatsmann

Richard Stengel meint, der Schlüssel zum Verständnis von Nelson Mandela sind die Jahre im Gefängnis. Als er 1964 eingesperrt wurde, war er ein leidenschaftlicher Revolutionär. Als man ihn 1990 freiließ, sah die Welt einen wohltemperierten Staatsmann. Der Autor wollte ergründen, welche Entwicklungsprozesse stattgefunden haben. Doch Nelson Mandela ist kein Mann, der gerne analytische Seelenschau betreibt.

"Ich habe ihn immer und immer wieder gefragt: 'Wie hat das Gefängnis Sie verändert?' Die Frage mochte er nicht. Sie war ihm ein wenig zu introspektiv", erzählt Stengel. "Aber eines Tages, als ich ihn zum 20. Mal gefragt habe, hat er geantwortet: 'Ich bin reif herausgekommen.' Das heißt, er hat gelernt, Charaktereigenschaften und Teile seiner Persönlichkeit, die für einen Führer nachteilig sind, zu kontrollieren. Er hat sich im Gefängnis Selbstbeherrschung beigebracht."

Richard Stengel beschreibt Nelson Mandela als einen Mann, der grundsätzlich ein positives Bild von anderen Menschen hat. Hinter dieser Haltung steckt auch eine Portion Pragmatismus. Dem gewieften Politiker war bewusst: Es ist nicht klug, Leute zu kritisieren. In der Politik ist nie auszuschließen, dass man mit diesen irgendwann zusammenarbeiten muss. Richard Stengel schreibt dazu:

Manchmal waren Gespräche mit Nelson Mandela richtiggehend frustrierend, weil er nie ein schlechtes Wort über jemanden verlor. Nicht einmal über Johannes Vorster, den Mann, der ihn hängen sehen wollte, kam ihm ein missbilligendes Wort über die Lippen. Dabei hatte der südafrikanische Präsident, der mit den Nationalsozialisten sympathisierte und die Apartheid vorangetrieben hatte, sein Bedauern darüber ausgedrückt, dass Mandela und seine Kameraden nicht hingerichtet worden waren. "Er war ein sehr anständiger Kerl", sagte Mandela und meinte es völlig aufrichtig.

Eine Serie von Lektionen

Richard Stengels Buch ist aufgebaut wie eine Serie von Lektionen über die hohe Kunst der Politik. Dass Mandela über niemanden ein böses Wort verliert, findet sich im Kapitel "Das Gute in anderen sehen".

Unter der Überschrift "Den Gegner studieren" erfährt man, dass er schon als junger Anwalt begann, Afrikaans, die Sprache der Buren und Machthaber, zu lernen. Im Gefängnis setzte er sein Sprachstudium trotz der Kritik von Mithäftlingen fort. Mit Afrikaans, so seine Begründung im Nachhinein, konnte er das Herz der weißen Südafrikaner erreichen.

"Manche Lektionen waren hart, manche waren machiavellistisch in ihrer Art", sagt Stengel, "und manche erinnern an Sun Tsus 'Die Kunst des Krieges'. Nelson Mandela ist in erster Linie Politiker. Das ist uns oft nicht bewusst. Und er war ein großartiger Politiker, der den Anschein erweckte, als wäre er keiner. Genau das machte ihn so großartig. Es war auch eine seiner Regeln: Politiker sein, ohne wie einer zu erscheinen; strategisch und taktisch vorgehen und dabei den Eindruck zu erwecken, dass es ihm um Inhalte und Werte geht. Das konnte er einfach."

Faible für Mode und Gärtnerei

Richard Stengel erzählt auch von wenig bekannten Seiten des 91-Jährigen wie zum Beispiel, dass er schon immer ein Faible für Mode hatte. Sobald er es sich als junger Anwalt leisten konnte, ließ er sich einen Anzug maßschneidern. Mandela sei immer bewusst gewesen, meint Richard Stengel, dass passende Kleidung zum Image gehört.

Kaum bekannt ist auch, dass Nelson Mandela im Gefängnis auf Robben Island einen Garten anlegte. Sein Ansuchen beschäftigte monatelang Anwälte und die Gefängnisbürokraten. Doch schließlich wurde es ihm erlaubt.

"Er hat im Gefängnis Gemüse angebaut und darauf war er sehr stolz", erzählt Stengel. "Er hat seinen Mithäftlingen und auch den Wärtern davon abgegeben. Er hat sich sehr für die Gärtnerei interessiert. Er hat sich aus verschiedenen Ländern Dünger schicken lassen. Wenn ich ihn auf den Garten angesprochen habe, hat er nicht aufgehört. Dann hat er von seinen Paradeisern, Zucchinis und Wassermelonen erzählt. Er hat sich viel Wissen angeeignet. Er ist ein Mann mit erstaunlichen Bewältigungsstrategien. In dem Kapitel über seinen Garten sagt er: Um durchzukommen, zu überleben und sich des Lebens zu freuen, muss man einen Platz finden, der von der Arbeit und dem normalen Leben getrennt ist. Für ihn war dieser Platz sein Garten."

Service

Richard Stengel, "Mandelas Weg. Liebe, Mut, Verantwortung. Die Weisheit eines Lebens", aus dem Englischen übersetzt von Anne Emmert, C. Bertelsmann Verlag

Random House - C. Bertelsmann