Der "Jahrhundertsänger" ist 85

Dietrich Fischer-Dieskau

In der Geschichte der Gesangskunst des 20. Jahrhunderts hat Dietrich Fischer-Dieskau als "Liederpapst" seinen Platz gefunden. Keiner hat sich so enzyklopädisch mit dem Genre auseinandergesetzt wie er.

Dietrich Fischer-Dieskau hat die Vorstellung, wie "Lied" zu sein hat, ein für alle Mal verändert: "Ich habe meine eigenen Maßstäbe." Einsam, ohne Vorläufer und ohne Nachfolger, steht Fischer-Dieskau in der Geschichte der musikalischen Vortragskunst: "Der Monolith", wie der beredtste Stimmen-Beschreiber der Deutschen, Jürgen Kesting, ihn genannt hat.

Für Leonard Bernstein war er "der bedeutendste Sänger des (20.) Jahrhunderts". Noch heute, da "FiDi" 85 wird und die letzte von ihm gesungene Note vor mehr als 18 Jahren verklungen ist, bleibt er für viele das Maß der Dinge – Hunderte CDs bewahren ihm den Rang des "Liederpapstes" aller Zeiten.

Der Chor der ehemals erbitterten Fischer-Dieskau-Gegner, die sich Fischer-Dieskaus Bariton-Kollegen (und ebenfalls: Liedersänger) Hermann Prey zum Antipoden erwählten, tönt nur mehr matt. Intellekt versus Instinkt (wie die jeweiligen Parteigänger meinten): eine "deutsche" Debatte!

Wo beginnen?

Im Nachkriegs-Berlin, 1947, mit der ersten "Winterreise" des aus der Kriegsgefangenschaft in Italien heimgekehrten 22-Jährigen? Im Jahr darauf, mit der ersten Opernpartie, dem Posa in Verdis "Don Carlos" an der Städtischen Oper? (Fricsay dirigierte, Wolfram im "Tannhäuser" folgte bald.)

Wilhelm Furtwängler holte ihn für Mahler zu den Salzburger Festspielen und für die legendär gewordene Tristan-und-Isolde-Gesamtaufnahme ins Londoner Plattenstudio: ein früher "Ritterschlag".

Wo enden?

1992, viereinhalb Jahrzehnte Sängerkarriere später, mit dem "Tutto nel mondo e burla", dem "Alles ist Spaß auf Erden" des Falstaff, als Schlusspunkt gesungen bei einer Operngala in München? (Visconti inszenierte, Bernstein dirigierte, als 1966 an der Wiener Staatsoper eine "der" Falstaff-Premieren des Jahrhunderts in Szene ging, mit Fischer-Dieskau in der Titelpartie.)

Oder mit den nachfolgenden Rezitationsabenden? Den Meisterkursen, wie Dietrich Fischer-Dieskau sie auch 2010 noch hält? Der Plattenstudio-Zusammenarbeit mit seiner vierten Frau Julia Varady? Denn "FiDi" war nie nur Sänger: Das Dirigieren, das Bücherschreiben, das Malen gehör(t)en dazu.

Oper, Lied und Zeitgenossen

Fischer-Dieskau hatte "seine" Opernpartien: den Mandryka in "Arabella" von Richard Strauss (er und Lisa Della Casa in München, Keilberth am Pult: unwiederholbar!), den Grafen in Mozarts Figaro, die ihn durch die Jahrzehnte begleiteten, aber der internationale Ruhm galt dem Liedersänger. (Wie das neben und fallweise gemeinsam mit ihm so nur noch Elisabeth Schwarzkopf gelungen ist.)

Hugo Wolf und Robert Schumann, Franz Liszt und Peter Cornelius, Ludwig van Beethoven und Richard Strauss, Othmar Schoeck und Gabriel Fauré – und natürlich immer wieder Franz Schubert, von dem Fischer-Dieskau aufgenommen hat, was nur für seine Stimmlage zu finden war, ergaben sein Konzert-Repertoire.

Von den Zeitgenossen haben Zillig und Fortner, Reutter und Blacher, von Einem und Hartmann und (immer wieder) Henze und Reimann für ihn komponiert, er war der deutsche Interpreten-Beitrag zu Brittens völkerverbindendem War Requiem und konnte in Martins Jedermann-Monologen demonstrieren, dass an ihm ein Salzburger Domplatz-Jedermann-Darsteller verlorengegangen ist.

Zwischen Text und Musik

Dietrich Fischer-Dieskaus Kunst führt in den Kern des Wort-Ton-Problems jeder textierten Vokalmusik. "Prima la musica, poi le parole"? Sind die Worte eines vertonten Textes "in Musik gesetzt" oder ist Singen ein auf eine höhere Ebene gehobenes Sprechen? Nochmals Kesting: "Fischer-Dieskau führt der Sprache Klang zu", statt "die Sprache in den Klang zu gießen". Ergebnis: Singen als emphatische Deklamation, mit dem in Sekunden wiedererkennbaren Fischer-Dieskau-Timbre, und ohne Scheu davor, fürs drastische Ausleuchten einzelner Worte die musikalische Linie zu zerreißen.

Für manche Opernpartien – Wozzeck, Doktor Faust, Cardillac, Mathis der Maler, Don Alfonso – mochte dieser primär intellektuelle Zugang taugen. Fischer-Dieskaus Rigoletto allerding galt der Kritik bereits als "Hofnarr mit Abitur"; mit dem Jago und dem Scarpia waren die Grenzen des lyrischen Bariton-Materials überschritten. Und dennoch! Trotz Über-Akzentuierung, Manierismen, erkämpften Tönen und (je später, desto drastischer) dem Rotieren im selbstgeschaffenen Kosmos der Wortfärbungen: Welche Individualität! Welche Lebensausbeute! Welche geistige Konzentration! Er ist und bleibt "Jahrhundertsänger".