Olivier Roy über entwurzelte Religionen

Heilige Einfalt

Nicht nur eine, eigentlich alle Religionen haben den Halt in ihrer jeweiligen Kultur verloren. Während die Religion früher im Zentrum kultureller Traditionen stand, ist die neue Religiosität Ausdruck einer entwurzelten Sinnsuche des Einzelnen, meint der französische Islamwissenschaftler Oilivier Roy.

Die europäische Identität ist ein schwieriges Thema. Noch komplizierter aber gestaltet sich die Debatte um europäische Werte, insbesondere dann, wenn es um die Rolle der Religion geht. Und das, betont Olivier Roy, hat einen verständlichen Grund, denn die Geschichte der europäischen Nationalstaaten zeigt: "Über die Frage, wie man die Beziehungen zwischen der Religion und dem Staat gestalten soll, wurden Kämpfe ausgetragen und Kriege geführt", so Olivier Roy im Gespräch. "Dann fand man Lösungen und Kompromisse, die aber in jedem europäischen Land - in Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Frankreich usw. - anders aussahen. Es gibt keine europäische Geschichte der Religion. Es gibt auch keine europäische Vorstellung von der Beziehung zwischen Staat und Religion. Wer das behauptet, irrt."

Brüchige Kompromisse

Was die europäischen Staaten hingegen verbindet, ist die Tatsache, dass diese Lösungen im Verhältnis von Staat und Religion, sowie zwischen Mehrheitsreligion und Minderheitsreligionen heute in Frage gestellt werden: Globalisierung, Säkularisierung, europäische Integration und Migration haben die alten Kompromisse brüchig werden lassen.

"Da der Rahmen, innerhalb dessen man diesen Kompromiss geschlossen hatte - eben der Nationalstaat - in der Krise ist, hat man keinen Ersatz", meint Roy. "Den einzigen Ersatz bietet uns das Völkerrecht - und zwar die Religionsfreiheit als Menschenrecht. Doch hier handelt es sich nicht mehr um einen zwischen Gruppen ausgehandelten Kompromiss, der in einen spezifischen historischen und kulturellen Kontext eingebettet war. Das führt zu einer Unsicherheit der Europäer bezüglich ihrer eigenen Identität. Und in dieser schwierigen Lage sucht man einen Schuldigen - und findet den Islam."

Symptome der Einfalt

Als penibler und kritischer Beobachter der europäischen Politik stellt Olivier Roy fest, zu welch absurden Situationen diese Ablehnung des Islam führen kann. Als ein markantes Beispiel nennt er Belgien: "In Belgien konnten wir beobachten, dass das Parlament geschlossen für das Verbot der Burka stimmt, und sich dann auflöst, weil sich nicht einmal 50 Prozent der Parlamentarier darauf einigen können, was Belgien ausmacht. Die Belgier wissen also nicht, was Belgien ausmacht, aber sie wissen, dass der Feind von Belgien die Frau in der Burka ist. Das ist die Klemme, in der sich Europa derzeit befindet: Wir definieren uns negativ gegenüber Phantomen, anstatt uns zu fragen: Wer sind wir eigentlich, und was machen wir jetzt?"

Die Haltung gegenüber der Frau in der Burka ist für Olivier Roy eines von vielen Symptomen jener Einfalt in Bezug auf Religion, die sich seiner Ansicht nach heute weltweit breit macht. Während früher auch Atheisten und Agnostiker ein fundiertes Wissen über die in ihrem Land vorherrschende Religion gehabt hätten, könne man dieses Wissen heute nicht einmal mehr bei gläubigen Menschen voraussetzen.

"Die Laien sind mit der Religion nicht mehr vertraut", meint Roy. "Umgekehrt kennen auch Menschen, die sich als Katholiken bezeichnen, aber nicht zur Messe gehen, ihre Religion nicht mehr. Die Anhänger der neuen religiösen Bewegungen interessieren sich ihrerseits erst gar nicht für das kulturelle Umfeld, in dem eine Religion entstanden ist oder in dem sie selbst heute leben. Sie halten das gar nicht für nötig, um zum Heil gelangen, auch weil sie die gegenwärtige Kultur als eine der Religion gegenüber feindselig eingestellte Kultur empfinden. Evangelikale etwa sind der Ansicht, es genügt ein Minimum an Kenntnissen, einige wenige Gebete. Das Wichtige ist für sie der direkte Kontakt zu Gott. Wir haben es also mit einer doppelten heiligen Einfalt zu tun."

Geänderter Untertitel

"Heilige Einfalt" lautet der Titel von Olivier Roys neuestem Buch, es ist eine getreue Übersetzung des französischen Originals. Den französischen Untertitel - Die Zeit der Religion ohne Kultur - hat der deutsche Siedler-Verlag jedoch nicht übernommen und stattdessen "Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen" gewählt. Olivier Roy ist damit nicht glücklich:

"Ich bedaure das. Ich denke, man hat sich für diesen Titel entschieden, um ein wenig Pep hinzuzufügen, um den Titel sexyer zu machen. Natürlich gibt es diese politische Dimension, das bestreite ich nicht. Aber die fundamentalistischen Bewegungen von heute stellen keine politische Herausforderung an die Gesellschaft dar, sie legen keinen alternativen Gesellschaftsentwurf vor. Die fundamentalistischen Bewegungen von heute verweigern vielmehr den Kompromiss mit der Gesellschaft. Die Frau in der Burka fordert keinen islamischen Staat, der interessiert sie gar nicht. Sie ist keine militante Islamistin. Was sie fordert, ist: Lasst mich meinen Glauben leben. Das Grundproblem heute ist das Verhältnis zwischen der Gemeinde der Gläubigen und der Gesellschaft."

Änderung der Religionsformen

Über das Verhältnis zwischen Religion, Kultur, Politik und Gesellschaft bestehen unzählige Missverständnisse, auf die Olivier Roy im Zuge seines Buches zu sprechen kommt. Ein grundlegender Irrtum betrifft die sogenannte Rückkehr der Religionen oder des Religiösen, die häufig so abgehandelt wird, als ob es sich um eine Rückkehr in eine bereits einmal da gewesene politisch-religiöse Konstellation handeln würde. Dazu schreibt Olivier Roy:

Sind die heute in Umlauf befindlichen Religionen tatsächlich dieselben - von Etiketten wie Christentum oder Islam einmal abgesehen - wie die, welche einst die großen Zivilisationen begründet haben? Derzeit erleben wir einen Übergang von traditionellen Formen des Religiösen (Katholizismus, muslimischer Hanafismus, klassische protestantische Bekenntnisse wie Anglikanismus oder Methodismus) zu fundamentalistischen und charismatischeren Formen der Religiosität (Evangelikalismus, Pfingstlertum, Salafismus, Tabligh, Neosufismus). Diese Bewegungen sind relativ neu.

Olivier Roys Anliegen ist es, die Gründe für die Attraktivität der neuen religiösen Bewegungen sowie deren Konzepte darzustellen - im Christentum ebenso wie im Islam und anderen Religionen. Fundiert, sachlich und pointiert zeigt er auf, wie früher Religion im Mittelpunkt kultureller Identität stand, während die heutige neue Religiosität die Sinnsuche entwurzelter Einzelpersonen und Gruppen widerspiegelt. Diese neue Religiosität ist nicht mehr in die sie umgebende Kultur eingebettet, sondern distanziert sich davon. Und das gilt weltweit.

Alle Seiten fühlen sich bedroht

Es besteht ein enges Band zwischen Säkularisierung und religiösem Wiedererweckungsglauben. Letzterer ist nicht Abwehr der Säkularisierung, sondern ihr Produkt. Es gibt keine Rückkehr des Religiösen, sondern eine Veränderung.

Genau diese Veränderung aber scheint alle zu verunsichern und führt zu einer verstärkten Frontstellung zwischen Verfechtern des Säkularismus, Angehörigen traditioneller Kirchen und Anhängern neuer religiöser Bewegungen.

"Die Gläubigen sagen, - und auch der Papst behauptet -, dass diese Gesellschaft ihnen gegenüber feindlich eingestellt sei", sagt Roy. "In der aktuellen Missbrauchsaffäre erkennt die katholische Kirche zwar die Fakten an, erklärt aber, der Angriff gegen die Kirche sei übermäßig, die säkularisierte, atheistische Gesellschaft würde sich an der Kirche rächen. Bemerkenswert ist aber: Alle religiösen Gemeinden behaupten heute, sie würden angegriffen. Die Ultraorthodoxen sprechen von Antisemitismus, die Evangelikalen von einem Hass auf Gott, die Muslime von Islamophobie. Alle sagen, wir gläubige Menschen befinden uns in einem Belagerungszustand. Die nicht religiösen Menschen, jene Menschen, die sich in der säkularisierten Gesellschaft gut eingerichtet haben, sagen ihrerseits: Die Gläubigen attackieren uns. Die fundamentalistischen Bewegungen attackieren uns. Jede Seite hat also das Gefühl, dass sie angegriffen wird, und ist davon überzeugt, dass die anderen im Vormarsch sind."

Service

Olivier Roy, "Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen", aus dem Französischen übersetzt von Ursel Schäfer, Siedler-Verlag