Die Ohnmacht der Erziehung

Der Infant von Parma

Mitte des 18. Jahrhunderts wird ein Enkel des französischen Königs zum Gegenstand eines einzigartigen pädagogischen Experiments. Wie es scheiterte, beschreibt die französische Philosophie-Professorin Elisabeth Badinter.

Ein pädagogisches Exempel

Läßt sich Aufklärung anerziehen? Ist die menschliche Natur nicht mehr als eine beliebig formbare "tabula rasa", die dort, wo Vernunft hineingegossen wird, auch Vernunft herauskommen lässt? Oder gibt es da noch etwas? Psyche und Gefühle zum Beispiel oder Kindheit und Adoleszenz? Und: sind wohlmeinende freigeistige Philosophen, die den politisch richten Weg der Vernunft und Aufklärung zu kennen glauben per se auch gute Pädagogen?

Am jungen Bourbonen Infanten von Parma wird Mitte des 18.Jahrhunderts ein pädagogisches Exempel statuiert: Ferdinand soll zum Philosophenfürsten, zum Paradebeispiel eines aufgeklärten Herrschers erzogen werden, um das kleine französische Herzogtum inmitten der italienischen und habsburgischen katholisch-konservativen Umgebung, zu einem mustergültigen Vorzeigeprojekt zu gestalten: Schluss mit Volksfrömmelei, christlicher Demut und korrupten kirchlichen Schattenregierungen. Statt dessen eine Regierung nach den Prinzipien der Rationalität, des Fortschritts und der Gerechtigkeit:

Ferdinand wird zum Streitobjekt einer verdeckt ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen der italienischen und der französischen Clique. Sie hat politische, aber auch religiöse Gründe. In den Augen der Parmaer sind die Franzosen schon fast Gottlose. Sie betrachten es daher als ihre Pflicht, den jungen Fürsten auf ihre Seite zu ziehen. Im Gegensatz zur französischen Kamarilla, die Modernität und Fortschritt in Kunst, Wissenschaft und Industrie verkörpert, beharrt der lokale Adel auf seinen traditionellen Werten und verteidigt mit Zähnen und Klauen den Primat der Religion.

Rigoroses Studienprogramm

Ab seinem sechsten Lebensjahr verbringt der junge Prinz seine Tage mit dem Studium moderner Naturwissenschaften, der Land- und Gartenwirtschaft, aber auch der Philosophie und der politischen Wissenschaften. Drei namhafte Intellektuelle teilen sich seine Erziehung: der Militäringenieur und persönliche Hofmeister des Infanten, Monsieur de Keralio, zuständig für die staatsbürgerliche Erziehung, der bedeutende Theologe und Philosoph Abbé de Condillac und Marquis Du Tillot, der liberale Premierminister Parmas.

Die drei Franzosen, die dieselbe Philosophie und vor allem ihren Abscheu vor dem Obskurantismus teilen, träumen davon, einen aufgeklärten, religiösen, aber vernünftigen Herrscher heranzubilden, der sich gegenüber dem allmächtigen Klerus in Parma durchzusetzen weiß. Diese ideelle Gemeinschaft wird in der Folge in keinem Moment in Frage gestellt, und die Erziehung des Prinzen ist ihr gemeinsames Werk.

Täglich absolviert der Infant ein rigoroses Studienprogramm, wobei ihm wissenschaftliche Inhalte mittels neuer pädagogischer Methoden nahegebracht werden. Ferdinand soll spielerisch lernen, der Infant darf in die Rolle seiner Erzieher schlüpfen und ihnen seine Interessen vermitteln.

Ferdinand scheint überaus gelehrig und begabt. Reisende und Diplomaten loben den beachtlichen Esprit, die Frühreife und das exzellente Wissen des Zöglings, dessen musterhaft geschulter Geist sich an den europäischen Fürstenhäusern rasch herum spricht.

Von der gelungensten Erziehung in ganz Europa ist hier die Rede. Der Fürst hätte Talente privater Art verbunden mit den Tugenden eines Herrschers, Er sei voller Menschlichkeit und wolle nur das Beste für seine Untertanen. Er wäre gänzlich frei und hätte alle Qualitäten eines außergewöhnlichen Edelmannes.

Allerdings werden auch Zweifel laut. Andere Beobachter äußern Bedenken, ob es sich beim hoch gezüchteten Infanten vor allem um einen um seine Kindheit geprellten frühreifen Regenten handelt, der gestelzt nachplappert, was ihm seine Lehrer eingetrichtert haben. So vermerkt der französische Diplomat, Baron de la Houze:

Dieser Fürst hat noch kein einziges Mal seinen Willen erkennen lassen. Er folgt, was die Geschäfte betrifft, Punkt für Punkt den Ansichten des Marchese di Felino, und was sein persönliches Verhalten betrifft, den Ideen von Monsieur de Keralio ...

Züchtigungen und Strafen

Charakterzüge, die dem erwünschten menschlichen Gesamtkunstwerk widersprechen, werden zunächst verleugnet, dann ignoriert und mit Zustimmung der Eltern mittels körperlicher Züchtigung und Strafen bekämpft. Aufklärung und Stockhiebe scheinen noch keine Gegensätze. Denn - oh Schreck - der Infant zeigt sich gelegentlich auch infantil, ist irrational, bockig, wankelmütig und selbst faul.

Vor allem aber fühlt sich Ferdinand just zu den Feinden der Aufklärung hingezogen. Wann immer er kann, umgibt er sich mit Mönchen, Gesinde und Bauern. Nach dem Tod seiner Eltern und seiner geliebten älteren Schwester - drei 3 traumatische Ereignisse, die einer einfühlsamen psychologischen Betreuung bedurft hätten, wird aus dem Infanten ein pubertierender Regent mit kauzigen Zügen.

Nach Don Philipps Tod entwickelt Ferdinand in seiner Trauer und Melancholie eine Zuneigung zu den bigottesten und traditionalistischsten Personen aus dem engsten Umkreis seines Vaters. (...) Da man ihm nicht erlaubt, den Rosenkranz zu tragen, macht er sich aus Maiskörnern selber einen, an dem die "Vaterunser" rot und die "Ave-Maria" gelb waren. Wenn man seine Inbrunst für die dominikanische Religion und seine Gebete für die Bewahrung des Glaubens noch begreifen kann, so stimmt die Anhäufung von Heiligenbildern und Reliquien, die er in seinen Schränken versteckt hält, doch nachdenklich. (...) Er geht von Kirche zu Kirche, nichts als Segnungen, Orationen, Prozessionen, Heiligenfeiern, Gebete, Gesänge, Glockengeläute usw., und zwischendurch zahlreiche Besuche bei den Bauern und Mönchen aus der Umgebung, die seinen Aberglauben teilen.

Reaktionäre Revolte

Es sollte noch schlimmer kommen: Regent Ferdinand, nun auch mit einer Tochter Maria Theresias verheiratet, wagt die Rebellion - und zwar auf höchst perfide Weise. In politischen Rundumschlägen macht das junge Herrscherpaar alle Maßnahmen, die zur Entfernung des klerikalen Einflusses bei Hofe geführt hatten, rückgängig. Die aufgeklärten Minister werden des Amtes enthoben, der Ministerpräsident und Vertraute Du Tillot entlassen und der kirchlichen Reaktion Tür und Tor geöffnet. Die Jesuiten kehren zurück. Das Land stürzt ins Chaos.

Wer hat Schuld? fragt die namhafte Autorin, die sich trotz der Ungereimtheiten keinen Spekulationen hingibt. Elisabeth Badinter breitet die Widersprüche vor den Lesern meisterhaft aus - und gibt nicht vor, sie restlos aufklären zu können. Es gab Defizite, aber sie ist nicht klar einzuordnen. War die Revolte Ferdinands Befreiungsschlag, Rache gegen seine Erzieher, wofür einige Anhaltspunkte, darunter auch eine Anklageschrift Ferdinands sprechen. Wurde der Infant gar terrorisiert? Mit Sicherheit war seine Erziehung rigide und demütigend. Sie entsprach nicht den psychischen Bedürfnissen eines Kindes und Adoleszenten.

Differenzierteres Bild der Aufklärung

Später fand Ferdinand partiell wieder auf den Weg der Vernunft zurück. Er blieb jedoch ein wandelnder Widerspruch - ein aufgeklärter Frömmler, der sich die neuesten wissenschaftlichen Werke bestellt, die Akademien fördert, das Bildungswesen reorganisiert und dennoch die Inquisition einführt - und persönlich ein äußerst libertines Sexualleben pflegt.

Was Badinter in diesem kleinen Büchlein ausbreitet, ist jedoch von unschätzbarem Wert: Sie vermittelt über dieses Erziehungsexempel ein weit differenzierteres Bild der Aufklärung, als man bisher vermutet hatte. Und es drängt sich fast von selbst auf: Man versteht, warum auf die Aufklärung die Romantik folgte.

Service

Elisabeth Badinter, "Der Infant von Parma oder Die Ohnmacht der Erziehung", aus dem Französischen übersetzt von Thomas Schultz, Beck Verlag

C. H. Beck