Der Niedergang des Menschen

Menetekel

Ozonloch, Waldsterben und die Finanzkrise - alles geht den Bach runter. Die Klagen über den Verfall der guten Sitten sind jedoch so alt wie die Menschheit: In seinem Buch "Menetekel. 3.000 Jahre Untergang des Abendlandes " nimmt Gerhard Henschel eine Parade der Unheilsverkünder ab.

Dass die Welt im Argen liege, ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte, selbst als die noch ältere Dichtkunst, ja gleich alt mit der ältesten unter allen Dichtungen, der Priesterreligion.

Schon Immanuel Kant wusste, dass die Sehnsucht nach dem Früher, dem Wesen der Menschen eingeschrieben zu sein scheint. Bereits in einem der ältesten erhaltenen Werke der abendländischen Literatur, in Homers "Ilias", beklagt sich der greise Krieger Nestor, dass er in seiner Jugend noch mit starken Männern gekämpft habe, mit Männern, die es so nicht mehr gäbe.

Ziehe man in Betracht, dass der sagenhafte Nestor gegen 1200 vor unserer Zeitrechnung gelebt haben soll, dann könne man davon ausgehen, dass der Untergang des Abendlandes schon vor circa 3200 Jahren beschlossene Sache war, rechnet Gerhard Henschel vor.

Ursprüngliche Perfektion?

Der Niedergang des Menschen begann mit der Vertreibung aus dem Paradies, so heißt es spätestens seit dem Aufkommen des Christentums. Der Mensch sei nicht viel mehr als ein Dekadenzprodukt, eine misslungene Mischung aus Tier und Gott, deren einziger Vorzug darin besteht, eben genau das einzusehen, zitiert Henschel den Historiker Alexander Demandt.

Henschel hält von der Klage, alles würde immer schlimmer werden, nichts. Denn dann müsste ja das Leben der ersten Menschen nahe an der Perfektion gewesen sein.

Vegetiert hatten die ostafrikanischen Urahnen der Menschheit im Pliozän, vor drei bis vier Millionen Jahren, ohne Kenntnis der Feuerzähmung, ohne Faustkeil, Steinaxt, Töpferscheibe, Rad und Pflug und auch noch ohne Tisch und Bett, ohne Kamm und Seife, dafür aber in Gesellschaft des Säbelzahntigers. Wenn das die gute alte Zeit war, sollten die "Propheten des Niedergangs" die Korrelation zwischen maßlosem Lebensgenuss und kulturellem Abstieg noch einmal gründlich überdenken.

Denn das sei eine Konstante im Denken all jener, die den Untergang vorhersagen: Sie sind überzeugt, dass die Menschheit deshalb kulturell absteigt, weil sich die Mitglieder der Gesellschaft lieber dem schönen Leben hingeben, als ehrlich, brav und enthaltsam für eine größere Idee zu arbeiten.

Einmal mehr: Rom

Am öftesten wird in diesem Zusammenhang auf den Niedergang Roms hingewiesen, der durch Wollust untergehenden Supermacht. Das Unbehagen des dekadenten Lebensstils wurde bereits im alten Rom selbst formuliert. Henschel zitiert einen Landwirt, der sich im ersten Jahrhundert nach Christi beschwerte, dass die Bevölkerung Pflug und Sichel verlassen habe und die Hände lieber im Zirkus und Theater rühre als auf Saatfeldern und in Weingärten.

Aber so schnell wollte das Reich doch nicht untergehen. Im Gegenteil: Im Jahre 116 hatte es seine größte Ausdehnung und es blieb noch länger eine Weltmacht. Zumindest so lange noch, dass im vierten Jahrhundert der Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus in den Chor der Apokalyptiker einstimmen konnte.

Rom war einst durch seine Härte, durch die Solidarität zwischen Reichen und Armen und durch seine Todesverachtung gerettet worden. Nun ist es verloren durch seinen Luxus und seine Habsucht.

Die Überzeugung, dass Rom aufgrund des ausschweifenden Lebenswandels seiner Bürger zugrunde gegangen ist, wurde von Historiker lange nicht hinterfragt, meint Gerhard Henschel. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang Edward Gibbons, der in seiner im späten 18. Jahrhundert entstanden Geschichte des römischen Reiches als einer der wenigen konstatierte, dass Rom an seiner übermäßigen Größe gescheitert sei, und man sollte nicht fragen, warum es untergegangen ist, sondern vielmehr darüber staunen, dass es so lange bestehen konnte.

... und dann die Apokalypse

Über 3.000 Jahre Untergang des Abendlandes berichtet Henschel, aber leider beschränkt er sich in seinem Buch im Grunde genommen nur auf einen Aspekt. Denn im Grunde schreibt er nur darüber, wie der vermeintlich sittliche Verfall als Vorbote des Untergangs gedeutet wurde. Bis zum Schluss wird nicht klar, nach welchen Kriterien Henschel seine Kapitel zusammengestellt hat.

So widmet er der Darstellung der sexuellen Revolution in der deutschen "Bild"-Zeitung mehr als 20 Seiten. Was nur mit dem Privatkleinkrieg, den Henschel seit mehr als acht Jahren mit dem Chefredakteur der "Bild"-Zeitung, Kai Diekmann, führt, erklärt werden kann.

Doch die Fragen bleiben

Leider sucht man in diesem Text vergeblich eine fundierte Analyse. Warum glaubten und glauben die Menschen, und wahrlich nicht nur die Dümmsten unter ihnen, an die Apokalypse? Mehr noch, warum sehnen sie sie förmlich herbei? Welche psychologischen Muster spiegeln sich in der Hoffnung auf den Niedergang und der Furcht vor dem Verfall wider? Welche gesellschaftliche Funktion erfüllt die Rede vom Untergang? All das beantwortet Henschel nicht.

Sein Buch ist auch weniger Analyse als eine Zitatensammlung, in der der Autor fast ganz zum Verschwinden gekommen ist. Denn Henschel montiert Zitat auf Zitat. Über 60 Seiten umfassen alleine die Anmerkungen am Ende des Buches. Da bleibt wenig Platz für eigene Gedanken. Das ist zwar nicht das Ende der Welt - und auch nicht der Untergang des Abendlandes - aber es ist es schade, dass der Autor aus einem spannenden Thema so wenig gemacht hat.

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Gerhard Henschel, "Menetekel. 3.000 Jahre Untergang des Abendlandes", Die Andere Bibliothek

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