Die Messner-Tragödie als Streitfall
Nanga Parbat
Zwei Brüder besteigen einen Berg, der eine kommt um, der andere überlebt. So kurz, so - scheinbar- einfach. Diese Geschichte hat sich 1970 am Nanga Parbat im Himalaya zugetragen, und die Öffentlichkeit beschäftigt sich bis heute damit.
8. April 2017, 21:58
Jochen Hemmleb, Bergsteiger, Expeditionsleiter, Vortragender und Sachbuchautor hat pünktlich zum 40. Todestag von Günther Messner ein eingehend recherchiertes Buch zum Thema vorlegt:
Es ist die im deutschsprachigen Raum am häufigsten erzählte und am schärfsten debattierte Bergsteiger-Geschichte: die Geschichte um Reinhold Messner und den Tod seines Bruders Günther.
Eine Frage der Verantwortung?
Die eigentlich tragische Figur sei die des Überlebenden. So könnte man, knapp zusammengefasst, Jochen Hemmlebs neues Buch lesen. Wobei der Autor diesem Überlebenden durchaus ambivalent gegenübersteht: Reinhold Messner, Extrembergsteiger aus Südtirol, und als solcher seit Jahrzehnten ein Medienstar.
Auf der einen Seite verkörpert Reinhold Messner das Image des unabhängigen, selbstbestimmten Individualisten und Einzelgängers. Seine Botschaften handeln von Eigenverantwortung, Selbständigkeit und eigenen Wegen ohne Fremdbestimmung. Nur, wenn es um das Schlüsselerlebnis seines Lebens geht, zeigt er ein konträres Gesicht. Dort sucht er anscheinend in nahezu allen entscheidenden Situationen, die für ihn mit einem wie auch immer gearteten Scheitern verbunden waren, im Nachhinein die Verantwortung bei anderen.
Zu dieser Einschätzung des ersten Bezwingers aller 14 Achttausender, des charismatischen Politikers und umtriebigen Museumsgründers Reinhold Messner könnte auch ein Nichtbergsteiger und oberflächlicher Konsument der Alpinliteratur kommen, denn Messner, der von der tragischen Geschichte wahrscheinlich Zeit seines Lebens verfolgt bleiben wird, trug im Lauf der Jahre selbst viel zur Verwirrung bei.
Wer die Kontroverse um die Ereignisse vom Nanga Parbat 1970 auf die Frage reduziert, ob Reinhold Messner nun "Hüter" oder "Mörder" seines Bruders war, polarisiert die Debatte und sorgt für Einseitigkeit, aber nicht Eindeutigkeit.
Mehr als nur Vermutungen
Unzählige Beschreibungen und Vermutungen sind zu der Tragödie am Nanga Parbat im Umlauf. Jochen Hemmlebs Buch geht über subjektiv gefärbte Vermutungen hinaus. Der Autor, Jahrgang 1971, ist selbst begeisterter Höhenbergsteiger und Trekker, sowie Mit-Initiator zahlreicher historisch-alpinistischer Expeditionen.
Hemmleb gibt fairerweise keine weitere nur scheinbar sichere Beurteilung ab, wie es viele vor ihm taten. Dennoch dürfte sein Buch eine der genauesten Annäherungen an das Drama in der höchsten Steilwand der Erde sein:
Eine Rekonstruktion der Ereignisse von 1970 und ihres inzwischen 40-jährigen Nachspiels ist nicht einfach. Da die Expeditionsmitglieder damals vertraglich verpflichtet waren, ihre Aufzeichnungen der Expeditionsleitung zur publizistischen Verwertung zu überlassen, existieren in einigen Fällen zwei Versionen: ein offizielles Expeditionstagebuch und ein privates, welche sich oft voneinander unterscheiden.
Nachträglichen Geschichtsdeutungen
Bei einem Ereignis wie diesem geht es nicht nur um die tatsächlichen Geschehnisse, sondern auch um die vielen nachträglichen Geschichtsdeutungen, die Teil des Ereignisses selbst werden.
Hemmleb stellte deshalb alle Äußerungen der damaligen Expeditionsteilnehmer einander gegenüber, und wertete auch Schriftstücke, Filme, Interviews und Gerichtsakten um die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen aus. Dann fügte er alles in ein Zeitraster, und kommentierte dieses als erfahrener Bergsteiger und Publizist. Schließlich reiste er mit dem Zeitzeugen Gerhard Baur an den Ort des Geschehens:
Einige Schritte vor mir ging Gerhard Baur seinen eigenen Gedanken nach. Er kannte den Blick auch aus umgekehrter Richtung: Vor 34 Jahren hatte er mit zwei Expeditionskameraden in einem kleinen Zelt hoch oben in der Wand, ganze 800 Meter unter dem Gipfel, die Nacht verbracht. Einen seiner Kameraden sollte er am nächsten Morgen zum letzten Mal sehen.
Persönliche Erfahrung und Einschätzung
Die Beschreibung neuerlicher Begehungen und Interviews vor Ort machen das Buch farbig, die übersichtliche und genaue Zusammenstellung der Ereignisse machen es lesbar für Personen, die die Geschichte noch nicht kennen, und die Kommentare des Fachmanns machen es interessant auch für Fachleute.
Zur Glaubwürdigkeit des Buches trägt bei, dass Hemmleb seine eigene Betroffenheit nicht ausspart. Psychologische Deutungsversuche zur letztlich tragischen Lebensgeschichte der Bergsteigerpersönlichkeit Reinhold Messner kennzeichnet Hemmleb aber als persönliche Einschätzungen. Neben dem Detailreichtum und der integeren Form der Datenaufbereitung wird das Buch auch durch den Verzicht auf eine reißerische Hypothese sympathisch. Denn wir werden höchstwahrscheinlich nie erfahren, was wirklich geschah!
Service
Jochen Hemmleb, "Nanga Parbat. Das Drama 1970 und die Kontroverse. Wie die Messner-Tragödie zum größten Streitfall der Alpingeschichte wurde", Tyrolia Verlag
Tyrolia