Argentiniens Fußball und Identität

Für Messi sterben?

Ein Buch für die fußballbesessenen Väter? Nicht unbedingt. Ein Buch über die argentinische Identität. Und die baut zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf dem Fußballspiel von Maradona und Messi auf. Behauptet der Argentinier Pablo Alabarces.

Superstar oder Ausnahmetalent?

Drei Siege in drei Spielen, unangefochten Gruppenerster bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Argentinien hat die Erwartungen seiner Fans erfüllt. Bloß Messi selbst, der neue Superstar im Trikot mit der Nummer 10, hat noch kein Tor erzielt. Und ohne Tore wird man kein neuer Maradona, meinte Maradona, der zum Erstaunen vieler als Teamchef zurückgekehrt ist auf die internationale Bühne.

Doping, Drogen, Verbalausrutscher, was hat der Mann nicht schon alles überstanden? Im Vergleich dazu Messi - der spielt einfach nur hervorragend Fußball. Das Verhältnis der Argentinier zum Fußball ist für Pablo Alabarces der Aufhänger, um im Jubiläumsjahr, als Staat gibt es Argentinien seit 200 Jahren, über die argentinische Identität nachzudenken.

Dunkle Epoche der Militärjunta

Als im März 1976 das Militär die Macht übernahm, begann das wohl dunkelste Kapitel in der Geschichte Argentiniens. Wirtschaftlich setzte das neue Regime auf Inflationsbekämpfung. Was zur Folge hatte, dass die Industrieproduktion in den folgenden Jahren um 40 Prozent sank und die breite Masse verarmte.

Viel gravierender noch waren aber die politischen Folgen. Um jeden Widerstand bereits im Keim zu ersticken, errichteten die Militärs einen regelrechten Terrorapparat. Geheime Verhaftungen, systematische Folterungen, nächtliche Erschießungen, und willkürliche Entführungen standen auf der Tagesordnung. Für 1976 wird die Zahl der staatlich organisierten Entführungen auf 30 pro Tag geschätzt. Die wenigsten Entführungsopfer tauchten jemals wieder auf.

Verlustgeschäft WM 1978

Wie jede Diktatur wollte auch die argentinische der Welt ein Bild der Normalität liefern. Und was hätte sich da besser angeboten als die im eigenen Land stattfindende Fußballweltmeisterschaft des Jahres 1978.

Die Weltmeisterschaft geriet zu einem ökonomischen Desaster. In einer Zeit, in der Fernsehübertragungen noch keine größeren Werbeeinnahmen generierten, kalkulierten die Investoren im Wesentlichen mit einem Ansturm ausländischer Besucher. Man rechnete mit 50.000 bis 60.000 Touristen; es kamen allerdings nur 7.000. Dazu 2.400 Journalisten und 400 geladene Gäste.

Mehr als 500 Millionen Dollar Verlust brachte die Fußballweltmeisterschaft 1978. Ökonomisch mochte sie für das Regime eine Belastung gewesen sein. Politisch aber war sie ein Gewinn. Schließlich wurde Argentinien Weltmeister und die Begeisterung kannte keine Grenzen.

Worüber jubelten die Massen?

Ausgiebig widmet sich der Soziologe Pablo Alabarces der Frage, wie denn nun der Jubel der Massen zu interpretieren sei. War er wirklich das, was die Machthaber verlautbarten: ein Zeichen des allumfassenden "Wir", die Heiterkeit eines geeinten Volkes? Die Freude über Argentiniens "bestes Fest"? Oder doch vielmehr ein "Dispositiv der List"? Versuchte das Volk im Rahmen des Jubels die Straßen und den öffentlichen Raum, aus dem es mit politischer Gewalt vertrieben wurde, unter dem Vorwand der Freude zurück zu gewinnen?

Die argentinische Gesellschaft sei seit ihrer Gründung vor 200 Jahren permanent auf der Suche nach Symbolen der "Argentinität" gewesen, meint Alabarces. Und der Fußball war dafür stets ein probates Mittel. 1891 wurde die Argentine Association Football League gegründet. Vorbild der ersten Kicker waren natürlich die Engländer. Aber das sollte sich rasch ändern.

Eine Frage des Stils

1912 und 1914 gastierten englische Clubs in Argentinien. Deren Trainer meinten ein wenig herablassend, dass die Argentinier zwar gut dribbeln könnten, aber taktisch zu undiszipliniert seien. Die Argentinier ließen diesen Vorwurf nicht gelten, sondern erklärten ihren Stil ganz einfach zur "kreolischen" Spielweise, in der nicht Taktik und Methodik, sondern Gewandtheit und Virtuosität vorherrschten.

England war im Fußball das Gegenstück zu Argentinien. So wie die Briten wollte man auf gar keinen Fall sein. Und aus diesem Grund sind auch die beiden Tore, die Diego Maradona bei der WM 1986 gegen den Erzfeind schoss, so legendär. Sein erstes - mit der "Hand Gottes" erzielt - gilt als Beweis der Schlitzohrigkeit, das zweite - nach einem Solo über den halben Platz - als Ausweis der argentinischen Genialität.

Triumphator und Heiliger

Überhaupt Maradona. Ihm alleine widmete Alabarces ein ganzes Kapitel. Maradona sei eine der letzten großen argentinischen Erzählungen, meint der Autor. Aus dem Armenviertel hat er es ganz nach oben geschafft. Und er brachte auch jene Vereine ganz nach oben, die nicht die reichsten sind - und die zumeist von den Armen und Marginalisierten verehrt werden. Am 5. Juli 1984 hielt Maradona triumphal Einzug in Neapel. Er verhalf dem Club zum ersten Meistertitel und wird in der Stadt noch immer wie ein Heiliger verehrt.

Maradona repräsentiert in jenen Jahren einige bis dahin unvereinbare Dinge. Für den Süden Italiens ist er ein lokal-regionales Idol, für Argentinien ein Nationalheld, und er entwickelt sich zur bekanntesten Person der Welt; er bekennt sich öffentlich zu seiner Drogenabhängigkeit; er ist als erste globale Figur des Fußballspektakels maßgeblich von den neuen technischen Bedingungen der Fußballproduktion geprägt. Und außerdem ist er in all diesen Jahren zweifellos der beste Fußballspieler der Welt.

Vorkenntnisse von Vorteil

Pablo Alabarces hat ein äußerst aufschlussreiches Buch über die Bedeutung, die der Fußball in Argentinien besitzt, vorgelegt. Der Titel "Für Messi sterben" führt ein wenig in die Irre - denn der aktuelle argentinische Superstar kommt so gut wie gar nicht vor. Vielmehr untersucht der Soziologe, wie Fußball dabei half, die argentinische Nation zu erfinden. Das ist über weite Strecken spannend, in seiner ganzen Komplexität jedoch wohl nur für argentinische Leser interessant.

Auch das muss erwähnt werden: Halbwegs folgen kann Alabarces Ausführungen nur der, der sich unter Begriffen wie "Alterität", "staatliches Narrativ", "heterogene Identitäten" oder "hegemoniale Intervention" etwas vorstellen kann. Allen anderen wird es wohl so ergehen, wie den englischen Verteidigern, die Maradona 1986 schwindelig dribbelte: Sie werden bloß staunen können und kaum verstehen, was da rund um sie vor geht.

Service

Pablo Alabarces, "Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation", aus dem Spanischen übersetzt von Bettina Engels und Karen Genschow, Edition Suhrkamp

Suhrkamp - Pablo Alabarces