Das Abenteuer der Wirklichkeit
Realismus-Ausstellung in München
"Realismus. Das Abenteuer der Wirklichkeit" heißt eine Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, die realistische Positionen in Malerei, Fotografie, Skulptur und Videokunst vorstellt - von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute.
8. April 2017, 21:58
Kulturjournal, 28.06.2010
Realismus - das ist eine Kunst, die wegen ihrer handwerklichen Raffinesse, der Präzision der Darstellung und der Fülle an Details frappiert. Und doch ist Realismus mehr als die täuschend echt wirkende Wiedergabe der Wirklichkeit.
Es ist immer auch eine Art und Weise, die Welt zu sehen, zu verstehen und zu interpretieren. Die künstlerische Vielfalt des Realismus bzw. der realistischen Kunst versucht nun eine große Überblicksausstellung in München zu zeigen.
Was ist real?
Um 1870 malte Gustave Courbet sein Bild "Wellen mit drei Segelbooten". Mit pastosem Pinselstrich bannte Courbet eine dunkel-brandende Welle mit weißen Schaumkronen auf die Leinwand, Wolken, die den Himmel verdüstern, und, ganz klein am Horizont, die Segel dreier Boote. Eine unruhig-bedrohliche Naturimpression, mit der brechenden Welle als Metapher der zeit- und ortlosen Natur, der archaischen Urgewalten.
Dreizehn Jahre vor Courbets Bild entstand Gustave Le Grays Werk "Die große Welle" - eine Fotografie. Auch hier eine sich türmende Welle, ein wolkenverhangener Himmel, das am Ufer schäumende Wasser. Beide Bilder, das von Courbet wie das von Le Gray, sind "realistisch". Das des Malers mag stimmungsvoller und dramatischer sein, das des Fotografen dagegen erscheint detailreicher, genauer. Aber ist es deswegen auch "realistischer"?
Perfekte Collagen
"Keine dieser Wellen ist real. Jede dieser Wellen ist nur real, in dem, wie sie vor uns ist, es ist ein reales Bild und ein reales Foto. Le Grays Wellen sind deshalb so berühmt, weil er eben in größter Präzision die perfekten Collagen aus Glasnegativen zusammengesetzt hat. Es war damals technisch noch gar nicht möglich, die unterschiedlichen Belichtungszeiten für die schnell bewegte Welle und den sich langsam bewegenden Himmel auf einem Bild zu bannen. Und so hat er, wie viele andere Fotopioniere, von Anfang an die Wirklichkeit getürkt", so Christiane Lange, Direktorin der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München.
Mit der Gegenüberstellung der Wellen-Bilder von Courbet und Le Gray beginnt Lange, ihre aktuelle Ausstellung. "Realismus. Das Abenteuer der Wirklichkeit" heißt die in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Emden entstandene Schau - ein Rundgang durch 150 Jahre Kunst im Zeichen der Realitätsdarstellung. Schon die eingangs zitierten Seestücke machen deutlich: mit Realismus ist nicht allein die mimetische Nachahmung der Wirklichkeit gemeint, der Versuch einer authentischen, vermeintlich objektiven Widerspiegelung des sinnlich Erfahr- und Erfassbaren.
Realismus oder Naturalismus?
"Es ist ja immer die Frage: Ist es Realismus oder ist es Naturalismus? Ist es nur der Spiegel der Wirklichkeit", fragt Lange. "Oder ist es vielmehr wie Brecht sagt: Der Realismus zeigt nicht, wie die wirklichen Dinge sind, sondern wie die Dinge wirklich sind. Da sind wir genau beim Thema. Wir haben nicht irgendwelche Handyfotos. Es sind Bilder von Fotografen, die wir als Künstler verehren, weil es jedem der Künstler gelingt, eine eigene Wirklichkeit in seinem Medium zu schaffen und mit dieser Wirklichkeit einen Kommentar auf unsere Welt zu geben. Und uns unter anderem darüber nachdenken zu lassen, was ist Realität und wie wird diese Realität überhaupt erzeugt? Wir wissen, dass es keine echten Bilder gibt, dass das Auge eigentlich das unzuverlässigste unserer Sinnesorgane ist, dass alle Bilder nur in unseren Gehirnen entstehen."
Bilder der Realität und die Realität der Imagination, nicht chronologisch, sondern nach Genres geordnet: Landschaften, Interieurs, Stillleben und Porträts zeigt die Ausstellung, und sie zeigt dabei eine Fülle unterschiedlichster Wirklichkeitsauffassungen und Realismus-Konzepte. Sie präsentiert Richard Estes' New York-Ansicht neben Sigurd Kuschnerus' Berliner Straßenszene, Bernd und Hilla Bechers Wassertürme neben Carl Grossbergs Papiermaschine, Daniel Spoerris Eat-Art-Tafel neben Thomas Ruffs Kaktus-Foto. Die strengen Porträts eines Christian Schad oder Rudolf Schlichter sind ebenso zu sehen wie die täuschend echten Menschen-Plastiken eines John de Andrea oder Duane Hanson, wie Edward Hoppers melancholische Hotel-Lobby und Terry Rodgers plakative Party-Szene, Andreas Gurskys schöne neue Dubai-Welt und Andreas Odermatts Schrottkiste, wie Heiner Altmeppens wie eine Spielzeugszenerie wirkende norddeutsche Landschaft und Courbets Blick auf die Welle oder ein Chateau.
"Wir haben Courbet bewusst gewählt, weil er programmatisch seine Protestausstellung gegen den Salon 1850 'Pavillon du Réalisme' nannte. Weil er sagte, man muss die Kunst ordinär machen, man muss sich neuen Themen zuwenden, den hässlichen Seiten der Gesellschaft", so Lange.
Klassisches Thema Historienbild
Kein neues, sondern ein geradezu klassisches Thema der Kunst ist das Historienbild, dem eines der interessantesten Kapitel der Ausstellung gewidmet ist. Wer glaubt, nach David oder Goya habe dieses Genre nur noch Zweitrangiges geliefert, wird eines Besseren belehrt. Der niederländische Künstler Aernout Mik setzt sich in seinen Videoinstallationen mit dem Thema Krieg auseinander und stellt die gängigen Bildmuster der Fernsehinformation in Frage.
In "Scapegoats" ("Sündenböcke") zeigt er eine lagerartige Situation, in der sich die Rollen von bewachten Zivilisten und bewachenden Soldaten, von Opfern und Tätern allmählich verschieben. Auch Gerhard Richter zeigt in seinen grauen Bildern von Flugzeugstaffeln, die auf Fotovorlagen basieren, Krieg nicht als blutigen Konflikt, sondern als diffuses Phänomen von Angriff und Bedrohung. Marc Quinn wiederum zitiert mit seiner lebensgroßen schwarzen Bronzeskulptur das berühmte Foto eines Gefolterten in Abu Ghraib, und Thomas Demand fotografiert mit "Gate" den nüchternen Pappenachbau der Sicherheitsschleuse eines Flughafens - jener, die der Terrorist Mohammed Atta, einer der Attentäter des 11. September, ungehindert passieren konnte.
Sicherheitsschleuse aus Papier
"Das Bild von Demand ist ein wunderschönes Beispiel zur Frage, was ist Realität. Das ist das Foto zur Sicherheitsschleuse, die ihren Namen nicht verdiente. Dann schauen wir genau hin und sehen, das ist ja gar nicht ein Foto, das ist ja alles aus Papier und mit Schere und Leim zusammengebaut. Eine völlig fiktive Realität wurde nach der Wirklichkeit oder dem Bild der Wirklichkeit erzeugt von diesem Künstler. Und dann wieder eine neue Ebene, eine neue Realität eines Bildes hergestellt. Darum geht es in dieser Ausstellung. Und jeder ist dazu aufgefordert, sich dem Dialog mit über 150 Arbeiten ein eigenes Bild der Realität zu schaffen", wünscht sich Lange.
Man kann der Münchner Ausstellung trotz der Sortierung der Werke nach Genres ankreiden, ein allzu buntes Potpourri zu bieten und die Frage, was Realismus in der Kunst heute bedeutet und zu leisten imstande ist, allenfalls zu umkreisen. Umgekehrt eröffnet die Schau freilich auch die Chance, Neues oder weniger Bekanntes im Kontext des Unvermeidlichen zu entdecken: Henrions feine Selbstporträts als Pierrot beispielsweise, Karin Kneffels poppig-buntes Wohnzimmer und Astrid Brandts filigrane Bleistiftzeichnungen nostalgisch wirkender Interieurs, Julian Opies Nachtszene und Michael Reischs Gebirgslandschaft.
Service
"Realismus. Das Abenteuer der Wirklichkeit", Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, 11. Juni bis 5. September 2010
Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung